Dezember 2016 / Victoriah Szirmai
Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, es früh dunkelt und feuchter Nebel durch die Straßen zieht, dann schlägt die Stunde der Singer/Songwriter. Wohl zu keiner Jahreszeit passt ihr melancholisches Klagen besser als zum winterwerdenden Herbst.
Zum Beispiel das des schottischen Musikers Fraser Anderson, der mit seinem Album Little Glas Box schon den Soundtrack zur gepflegten Jahresanfangstristesse der fairaudio-Leserschaft lieferte, wobei ihm das Kabinettstück gelungen ist, der Folk-hungrigen Meute insgeheim ein Soul-Album unterzuschieben und damit für viel, sehr viel heimliches Wohlgefühl zu sorgen. Sein mittlerweile viertes Album Under The Cover Of Lightness geht die Dinge indessen komplexer an. Wo auf Little Glas Box noch die pastorale Idylle seiner damaligen Wahlheimat im ländlichen Frankreich durchschlug, macht sich nun der erneute Umzug Andersons nach Bristol bemerkbar, der – ob einheimischer Protagonisten wie Massive Attack, Tricky oder Portishead – einstigen Hochburg einer als „Bristol Sound“ zusammengefassten Spielart des TripHop.
Erst einmal aber eröffnet Under The Cover Of Lightness mit derart warmen Bläsern und butterweichem Bass, dass man sich unwillkürlich an den guten alten Soul eines Bill Withers oder des am Dock Of The Bay sitzenden Otis Redding erinnert fühlt, vor allem, da auch Andersons Gesang eher an einen Southern Crooner, der in der Sonne liegt und die Welt einfach mal Welt sein lässt, als an einen schmerzgebeutelten Barden gemahnt. Solcherart in Sicherheit gewiegt, schlägt auf dem Duett „Beautiful Eyes“ mit der Bristoler Torch-Sängerin Bex Baxter, von dem eine zauberhafte Unplugged-Version durchs Netz geistert, das volle Maß an Düsternis zu, wobei der regendurchnässte Ausflug einer einsamen Seele in triphoppige Gefilde gleichsam eine Perspektive auf die Möglichkeiten für den Rest des Albums eröffnet.
Von folkiger Dezenz ist auf dem electroclashigen „Go On Wide (Part 1)“ dann auch so rein gar nichts mehr zu spüren, das wirkt, als zöge sich Anderson inmitten synkopierter, atmosphärischer Synths lautstark aus seinem eigenen Traum empor. Erst „Part 2“ entspannt sich wieder zur Mann-mit-Gitarren-Nummer, wobei Wellenrauschen und Vogelzwitschern Anlass zur Frage geben, ob man nicht versehentlich in einer Wellness-CD gelandet ist. Ist man nicht, wie „Please Let This Go“, das bislang wohl reduzierteste Stück des Albums, beweist. Zum Musikmachen braucht Anderson nicht mehr als seine Stimme, seine Gitarre und eine gehörige Portion Verzweiflung, keine Overdubs, kein Gezirpe, nichts. Selbst als nach anderthalb Minuten dann doch noch die Band einsetzt wird der Bann dieses tollen Stücks nicht gebrochen, das definitiv ein Kandidat fürs fürs Endjahres-Loop-Hören ist.
Kleine Kammer-Folk-Preziosen wie „The Wind And The Rain“ lassen ob ihres warmen Grooves die Platten von Fink anklingen, während der Gesang Andersons, wenn er ins Falsett wechselt, hier schon mal an Asaf Avidan erinnert, nur ohne dessen unbedingte Dringlichkeit, derweil dezentes Hammondgeschwurbel für weiteres Wohlbehagen sorgt. Wenn Anderson seine Gitarre wie auf „Feel“ dann aber mal einstöpselt, greift er ganz tief in die Psychedelic-Kiste, um einen astreinen Blues daraus hervorzuzaubern, der das Paradoxon meistert, auf den Punkt zu wabern. Bald schon bezirzt er obendrein mit trauter Zweistimmigkeit, alldieweil Chris Agnews Kontrabass ein Jazzthema andeutet und Matthew Skollers Harmonika in das Klagen der verzerrten Gitarre einstimmt.
„With You All“ überrascht als Spoken-Word-Piece irgendwo zwischen Jazz Poetry und LoFi-HipHop, das direkt von der Bühne eines urbanen Poetry Slams auf die Platte gelangt zu sein scheint, bis mit „Crying From My Heart“ wieder streicherinduzierter Kammer-Folk für die Seele aufgefahren wird, von dem vor allem Beth Porters schwermütiges Cello im Ohr bleibt. Auf ein Genre, wird hier einmal mehr klar, mag sich Anderson nicht festlegen lassen. Immer wenn man glaubt, jetzt könne man ihn fassen, macht er wieder etwas ganz anderes. Erwartungen werden so zwangsläufig enttäuscht.
Und dann kommt es doch noch, das Stück, das zum schwindenden Jahr, zu früher Dunkelheit und feuchtem Nebel passt, das Stück, das so schön ist, dass es weh tut, das Stück, das den Schmerz mit ach-so-sanften Backgroundharmonien und Matthew Hawkes gedämpftem Posaunenton garniert, auskostet, lustvoll verlängert: „Five Days“. Weniger weh doch nicht minder schön gestaltet sich der Closer „Rising Sons“, dessen warmer Piano-plus-Orgel-Grund den perfekten Soundtrack zum besungenen Zuhause, dessen Unverletztheit Anderson immer zu verteidigen gelobt („I’d choose broken bones over broken homes“), bietet. Fraser Anderson führt den Hörer auf Under The Cover Of Lightness von der Wärme der letzten Sonnenstrahlen zur Eiseskälte trostloser Einsamkeit – und wieder zurück.
Fraser Anderson – Under The Cover Of Lightness
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Im Gegensatz dazu geht Fabrizio Consolis Interpretation von Singer/Songwritertum gleich in medias res: Der Cantautore eröffnet seine neue Platte 10, für deren Titel die zehn Gebote Pate standen, mit einem diabolischen – oder ist es ein göttliches? – Lachen, das sich im Verlauf des Openers „Credo“ zum infernalischen Tanz steigert, befeuert von Hammond und vierköpfigem Bläsersatz plus Solotrompete. Erst die bandoneongetränkten Tangoklänge von „La Cultura“ bringen etwas Ruhe, die ihre Vollendung im wiegenliedgleichen „Partir“ findet und endlich Raum lässt festzuhalten: Was für ein großartiger Sänger! Hinter seinem berühmten Landsmann Paolo Conte muss sich der 52-jährige Mailänder, dessen Stimme einmal als „zwischen Honig und Schotter“ beschrieben wurde, jedenfalls nicht verstecken.
Das seiner Musik innewohnende Drama versteht Consoli durch eine natürliche Lässigkeit abzupuffern, die mit lebhaften Latin Grooves genauso zurande kommt wie mit der großen Ballade. Am wohl erstaunlichsten aber ist die songimmanente Entwicklung, denn hier bleibt zum Schluss nichts, wie es anfangs begann. Da wird aus der Pianoballade schon mal eine überbordende Fiesta Latina, gekrönt mit einem wohldosierten Schuss Italo-Pop. Consoli selbst gibt das immer leicht heisere Reibeisen; er flüstert und gurrt, wispert und knurrt, schmeichelt und brummt, unterstützt von einem bunten, ähnlich klangfarbenreichen Instrumentarium. Wo sich die Premessa zu „Il Maestro“ trotz durchsetzungsfähiger Oktavgitarre und dramatischem Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Harmonika-Solo zurückhält und das piano- und mandolinensatte „Sirena“ ein turtelndes Flügelhorn auspackt, fährt die nur gut dreißig Sekunden währende „Processione“ alles an Bläsersatz und Schlagwerk auf, dessen sie habhaft werden kann.
Ein Lieblingsstück auf dieser tangofarbenen Platte ist die Bandoneonballade „Maria“, auf der das wehklagende Handzuginstrument von einer Rührtrommel und einem Jazzbass umspielt wird. Auch „L’Innocenza Di Giuda“ mit seinem rhythmisch verschobenen Piano und den von Fabio Buonarota im Hintergrund ausgefahrenen Trompeten von Jericho rückt die Platte in respektable Jazznähe. Das rollend-marschierende „Il Maestro“ ist ein weiteres Lieblingsstück, das den Trompetenton Buonarotas richtiggehend liebgewinnen lässt, bis auf dem melodiestarken „Ultima Cena“ das nicht minder liebgewonnene Bandoneon Antonello Messinas noch einmal winkt.
Und während die „Revolución“ noch nie so viel Spaß gemacht hat wie hier, schließt das Album auch schon wieder mit einer Reprise von „Credo“ ganz ohne Knurrgrollen, sondern andächtig wie im Gebet – und nicht ohne einen weltstädtisch-verschachtelten Beat, der einmal mehr verdeutlicht, weshalb Fabrizio Consoli seine Platte als „urbane Weltmusik“ bezeichnet, die zu genießen keinerlei Italienischkenntnisse erfordert: „Indem ich meine Kultur und meine durch und durch italienischen Wurzeln mit dem Tango, dem Jazz, der Musik Südamerikas, Osteuropas und anderen mische, also mit all der Musik aus der ganzen Welt, die meine Seele anspricht, erreiche ich eine Ausdrucksweise, die alle intuitiv verstehen können, jenseits der Sprache, in der ich singe“, sagt der Cantautore, und dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.