Inhaltsverzeichnis
- 1 Ada | Illute | Maria Taylor | Seide | The Waterboys | Beirut | Megafaun | Krispin
- 2 Ada / Meine zarten Pfoten
Beginnen wir mit der Kölnerin Michaela Dippel aka Ada. Deren Zweitling Meine zarten Pfoten ist bereits im Juni dieses Jahres erschienen, damals aber komplett an mir – und demzufolge auch an den Lesern von Victoriah’s Music – vorbeigegangen. Leider, muss ich hinzufügen, denn als ich die Platte mit dem rätselhaften Titel kürzlich zum ersten Mal gehört habe, war mir sofort klar, dass es sich hier um eine dieser stillen Schönheiten handelt, die selten sind – und glücklicherweise auch zeitlos. Meine zarten Pfoten passt zum September jedenfalls ebenso gut wie zum Juni, minimalistisch, zart und versponnen, wie sie ist. Ob nun eine Jahreszeit freudig erwartend begrüßt oder wehmütig leise verabschiedet wird – Meine zarten Pfoten ist wie geschaffen für Übergänge, und es wäre schade, die Platte nicht noch einmal in dem ihr angemessenen Rahmen zu würdigen.
Gleich der Opener „Faith“ ist ein Song, der zumindest für mich wie geschaffen ist. Würde ich Musik machen, ich wünschte, sie wäre wie „Faith“: Da gibt es dezentes Elektrogeschnassel und fedrig-leichte Synthieflächen, die sich mit einer zarten Akustikgitarre paaren, es gibt gehauchten Satzgesang, zu dem sich bald verführerisch schleppende Percussions gesellen. Ganz am Schluss hat auch noch ein betörend vor sich hinblubbernder Bass seinen großen Auftritt. Sexy und schlau, eine unwiderstehliche Kombination. Allein für Adas Version von „Faith“, einem Cover der Indieband Lucious Jackson, muss man diese Platte lieben, denn er macht wunschlos glücklich. Und wenn man nur diesen einen Track auf Repeat laufen lässt – er allein lohnt den Kauf. Ich jedenfalls bin hin und weg.
Die übrigen acht Songs können nichts dafür, aber sie erreichen die Qualität von „Faith“ nicht. Was jetzt Jammern auf höchstem Niveau ist, denn natürlich sind auch diese minimalistischen Preziosen mehr als hörenswert. Bei Ada stehen Computer gleichberechtigt neben akustischen Instrumenten, noch dazu hat sie die komplette Platte im Alleingang eingespielt, was schon gehörigen Respekt verdient. „On The Mend“ kreiert eine träumerische Atmosphäre, hat aber, da er jenseits von herkömmlichen Strophe-Refrain-Strukturen ohne Gesang auskommen muss, weniger etwas von einem Song als von einer kleinen Sound-Geschichte. Straßegeräusche hier, skizzierte Flamencogitarren da – klar hat das was von Chill-Out. Aber eben nicht nur. Die Café del Mar-Macher hätten mal bei Ada reinhören sollen, bevor sie ihre Wellenrauschakustikgitarrenbelanglosigkeiten in die Welt setzten. Bei Ada rauscht und zupft es auch – aber eben mit Verstand, Sinn und ganz viel Wärme. Selbst Mopedgeknatter schafft es auf Meine zarten Pfoten, eine wohlige Atmosphäre zu vermitteln.
Ein gewisses Südsee-Flair kann man Meinen zarten Pfoten nicht absprechen, besonders wenn es zu Stücken wie „Likely“ kommt. Nur ist man hier nicht wie bei CdM beim Wollen stehen geblieben, sondern zeigt auch Können. Und das ist immer angenehm zu hören. Und eine schöne Hammond gibt es hier auch noch, sodass „Likely“, dessen Text ausschließlich aus dem komplex arrangierten Mantra Happy or Sad besteht, auf höchst angenehme Weise vor sich hin orgelt. „The Jazz Singer“ wartet auch mit allerlei Glockenspiel, Vibraphon und Harmonica auf, überrascht aber vor allem durch den R&B-Beat und den Gesang im Beyoncé-Stil, wobei auch hier die Grundentspanntheit Adas nicht verloren geht.
Das rein instrumentale Intro ist da schon deutlich nervöser, besticht aber immer noch durch einen butterweichen Bass. Auf der Vinyl-Version von Meine zarten Pfoten eröffnet es die B-Seite und bringt gleichzeitig einen clubbigeren Ton ins Spiel. Spätestens mit „At the Gate“ hat sich das Album zur düsteren House- wenn nicht gar Techno-Platte ausgewachsen. Gäbe es das Genre Organic-House, Ada wäre seine Hohepriesterin, denn sie versteht es, den teilweise an den Nerven zerrenden Beats mit Flughafenatmosphäre eine menschliche Komponente zu verleihen, beispielsweise wenn ein E-Piano das Geschnassel bricht und dann völlig selbstverständlich wieder fortsetzt. Oder ein einsamer Streicher am Schluss dazu fiedelt. Schön, das. Man könnte es auch als Songwriter-Techno bezeichnen.
Einzig „Interlude“ zerrt mit seinen Flötenhöhen dann doch sehr an Nerven und Gemüt. Nicht mal der Samba-Untergrund kann das abfangen. Schade, denn hier gibt es endlich wieder Vocals, auch wenn Ada ihre Stimme oft nur wie ein weiteres Instrument einsetzt und sich der Text auf das Wort „Hey“ beschränkt – ihre Chorsätze sind nichtsdestotrotz immer wunderschön anzuhören! „Happy Birthday“ ist dann wieder eine klassische Housenummer und meiner persönlichen Meinung nach der verzichtbarste (und mit gut sechs Minuten definitiv zu lange) Song des Albums, der vocoderverzerrte Gesang allerdings auch hier hörenswert. Bei den letzten Tracks wird ganz klar, weshalb Ada ihre musikalische Heimat auf Pampa Records, dem Label von DJ Koze, gefunden hat.
Der Schlusstrack „2 Likely“ – eine A-Capella-Reprise von „Likely“, zu der sich ein vertracktes Streichquartett gesellt und allerlei Geräusch passiert – versöhnt allerdings wieder komplett mit dem Album. Auch hier wird in der Ada-typischen Reduziertheit wieder die richtige Frage gestellt, wenn aus „happy or sad?“ „lucky or mad?“ wird. Wozu mehr Worte machen. Der Aufforderung „Keep me in Mind“ des Hidden-Tracks jedenfalls wäre ich gern nachkommen.
Die A-Seite dieser wundervollen Elektroakustikplatte kann man sonntagmorgens im Bett hören, die B-Seite als klassische Chill-out-Platte beim Nachhausekommen nach einer durchgemachten und -wachten Nacht. Und allein das Cover des Zartpföters rechtfertigt den Kauf eines Plattenspielers, falls man bisher keinen hatte. Das muss man einfach in groß haben.
Illute / Immer Kommt Anders Als Du Denkst
Schöne Bilder, viele Akustikinstrumente und singende Computer gibt es auch bei Illute. Atmosphärisch ähnlich wie Ada, wenngleich technisch komplett anders, umkreist die Berliner Illustratorin und Musikerin Ute „Illute“ Kneisel in klugen Worten ihren Themenkreis um Alltägliches und Zwischenmenschliches.
Wenn Ada ein wunderbar zartes Elektronikalbum gelungen ist, dann hat Illute mit Immer kommt anders als du denkst ein herrlich reduziertes Songwriter-Album gemacht, das den Flirt mit Electro-Elementen nicht scheut. Bei beiden Künstlerinnen entfaltet sich die Schönheit im Minimalismus.
Obwohl von Illute einige EPs in Umlauf sind, gilt das bei Analogsoul in Leipzig und Las Vegas Records in Wien erschienene Immer kommt anders als du denkst als ihr eigentliches Debüt-Album. Und tatsächlich hat Produzent Alexander Nefzger Illutes „tiefgründige Fräulein-Musik“ (Lie In The Sound), die im Illute-typischen Sprachmix aus Deutsch, Englisch und Spanisch zum Teil – wie beispielsweise „Viva laIgnorancia“ – schon vor diesem Album veröffentlicht wurde, endlich in die Form gegossen, die sie schon immer verdient hat.
Ein erstes Highlight ist sicherlich „Es wird gehen“, das auf der Platte in ungewohnt rockigem Gewande daherkommt, mit nahezu martialisch anmutendem Schlagwerk und Schwermetallgitarren, die sich zu einer richtiggehenden Wall of Sound steigern. Wandelbar, wie Illutes Lieder sind, habe ich neulich eine ambientige Live-Version von „Es wird gehen“ gehört. Auf der Platte aber bleibt es mit „Ob es genug ist“ und „My Music is a Boat“ erst einmal rockig.
Überhaupt „My Music Is A Boat”! Einmal gehört und verstanden, was ein Freund meinte, als er von Immer kommt anders als du denkst von einer „lebensrettenden Platte“ sprach. Part 1 könnte als Craig Armstrong’sche Score-Music durchgehen, mit seinen ätherischen Pianokaskaden und wabernden Gesang. Wieder so ein Lied, das tagelang auf Repeat laufen kann, ohne dass man seiner überdrüssig wird. Dabei hat gerade der zweite Teil eine Schlagzeug-, Bass- und Gitarrenfront, die sich fast zur Rockoper steigert – niemandem sonst würde ich so etwas verzeihen, aber hier ist es einfach nur verdammt großartig.
„Verschwende deine Zeit“ macht restlos glücklich, ähnlich wie der schmeichelnde Opener „Du bist eine Stimme“. Ein weiterer Liebling – wenn nicht gar der zweite Lieblingssong des Albums – ist „Dünner Tag“ mit seiner gedämpften Swing-Trompete und dem ebenso gedämpften Gesang, der klingt wie durch ein Bändchenmikro aus den Vierzigerjahren aufgenommen. Dazu noch eine Ukulele und sich proportional zum Bläsersatz steigernde Circen-Chöre sowie ein hübscher Text – die Zutaten für den perfekten Song. Je öfter ich „Dünner Tag“ höre, desto mehr läuft er „My Music Is A Boat“ den Rang ab. (Über-)Produziertes gegen Minimalismus – ich kann mich nicht entscheiden. Bei anderen Platten ist man froh, wenn sie einen Lieblingssong enthalten. Auf Immer kommt anders als du denkst gibt es gleich so viele ...
Dazu schimmert bei Illute trotz aller Leichtigkeit und Zartheit immer eine unglaubliche Gefasstheit, ja: Stärke durch. Diese Musik ruht sehr in sich selbst, die Gefahr, dass der nächste Windstoß sie davonträgt, wie das bei ihren ätherischen Kolleginnen oftmals der Fall ist, besteht hier nicht. Geerdet fliegen, das ist es, was man beim Hören von Illutes Musik kann.
Maria Taylor / Overlook
Und gleich noch ein tiefgründiges Fräulein, weil es so schön ist. Die 1976 geborene Indierock- und Folk-Singer-Songwriterin Maria Taylor hat mit Overlook ihr mittlerweile viertes Album veröffentlicht – zählt man die beiden Alben Who Did You Pay (1997) und It's in the Sound (2000) mit ihrer ehemaligen Band Little Red Rocket, drei weitere Alben mit dem Duo Azure Ray sowie die EP Savannah Drive (2008) mit Andy LeMaster nicht mit. Nebenbei hat Taylor noch die Zeit gefunden, für Mobys Album 18 zu schreiben und zu singen. Jemand mit so einem Output ist entweder übernatürlich mitteilsam – oder hat wirklich etwas zu sagen. Im Idealfalle natürlich beides zusammen.
Und Gedanken macht sich Maria Taylor – die allerdings erwartet sie auch von ihren Hörern. So beispielsweise gab sie ihr letztes Album Lady Luck (2009) mit der Anweisung heraus, es im Liegen zu hören, damit man sich richtig darauf einlässt, anstatt nebenbei durch die Wohnung zu laufen und noch andere Dinge zu tun. Und auch Overlook verlangt dem Hörer wieder seine volle Aufmerksamkeit ab. Zu den Aufnahmen ist Taylor eigens wieder aus ihrer Wahlheimat Los Angeles, die ihrem vorigen Album einen Hauch sonnendurchfluteter Leichtigkeit verlieh, in ihre Heimatstadt Birmingham, Alabama zurückgekehrt. Nicht umsonst hat sie ihr Album nach der dortigen Overlook Road benannt. Hier konnte sie sich ganz auf die leisen Töne besinnen, die sich dann auch in der behutsamen Instrumentierung von Overlook spiegeln: Akustikgitarre, Bass, Piano und Schlagzeug. Der Flirt mit den Elektronika der Vorgängeralben scheint endgültig passé. Selbst der Synthesizer wird nur noch zu besonderen Anlässen ausgepackt, beispielsweise auf dem Opener „Masterplan“, der mit seinem treibenden Bass und seinen schlagkräftigen Drums schon fast mit plakativ-pathetischer Rockstar-Attitüde daherkommt. „Matador“ steht dem mit seinem „Everyday is a new day“-Schlachtruf in nichts nach. Folkig-hippiesker geht es da schon auf „Happenstance“ zu, und hier erst entfaltet sich die Magie der Maria Taylor, der auch die Serienproduzenten von Grey's Anatomy, Private Practice oder Scrubs erlegen sind. Ihre Songs laufen im Hintergrund der modernen amerikanischen TV-Serien jedenfalls rauf und runter.
Schon auf „Like It Does“ packt Taylor aber wieder die E-Gitarre aus, ohne aber das Träumerische der Nummer preiszugeben, die eher ans Lagerfeuer als auf die große Bühne gehört. Ohnehin wohnt den meisten Liedern der Maria Taylor eine Intimität inne, die einen zögern lässt, das Album außerhalb der eigenen vier Wände zu hören. Für Mitsinger wie „Bad Idea“ oder „In A Bad Way“ gilt das indessen nicht. Diese Songs schreien regelrecht danach, bei offenem Fenster oder Verdeck gehört zu werden.
Und dann gibt es auch noch Stücke wie „Idle Mind“, denen ein abgrundtiefer Selbstzweifel innewohnt, während „This Could Take A Lifetime“ zwar zerbrechlich, aber dennoch optimistisch daherkommt. Abgerundet wird dieses rundum heimelige, vor allem aber abwechslungsreiche Neun-Track-Album mit dem elegischen „Along For The Ride“, das meiner Meinung nach das verzichtbarste Stück von Overlook ist, es aber auch nicht mehr schafft, das positive Gesamtbild zu trüben.
Seide / Passion, Pain & Poetry
- 3 The Waterboys / An Appointment with Mr Yeats
Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Ada | Illute | Maria Taylor | Seide | The Waterboys | Beirut | Megafaun | Krispin
Es muss etwas Atmosphärisches sein: Alle stützen sich im Moment auf Yeats. Nicht nur haben King Oliver’s Revolver den Dichter gerade erst zitiert – auch die schottisch-irischen Folk-Rocker haben sich sein Werk vorgenommen und dem Poeten mit An Appointment with Mr Yeats gleich ein ganzes Album gewidmet. An der Vertonung einzelner Yeats-Gedichte hatten sie sich 1988 auf ihrem Album Fisherman’s Blues sowie 1993 auf Dream Harder bereits versucht – und reihen sich damit in eine höchst heterogene Riege von Musikern ein, von Donovan und Van Morrison über Loreena McKennit und Carla Bruni bis zu den Cranberries und der finnischen Black-Metal Band Circle of Ouroborus. Und nun also gleich ein ganzes Album mit Yeats-Vertonungen.
So ein poetisches Konzeptalbum geht ja gern schief. Schaudernd denke ich da beispielsweise an das deutsche Rilke-Projekt I bis IV zurück. Hier aber ist der seltene und deshalb umso erfreulichere Fall eingetreten, dass es funktioniert. Vierzehn Yeats-Gedichte hat man sich vorgenommen, namhafte und weniger bekannte, ironische, romantische, politische und mystische. Ja, man könnte sagen, es ist den Waterboys darum zu tun gewesen, ein möglichst großes Spektrum des irischen Dichterkönigs zu präsentieren. Dafür erweitert auch die Band um ihren exzentrischen Mastermind Mike Scott gern ihre Stammbesetzung, die auf An Appointment with Mr Yeats durch den irischen Geiger Steve Wickham komplettiert wird, den Scott als „the world’s greatest rock fiddle player“ bezeichnet, ferner durch die irische Sängerin Katie Kim, die Multi-Instrumentalistin Kate St. John, die Flook-Flötistin Sarah Allen und den katalanischen Posaunisten Blaise Margail.
Vielleicht hat es hier funktioniert, weil Mike Scott mit An Appointment with Mr Yeats seinen jahrelang gereiften Traum verwirklicht hat. In seinem privaten Songalbum sammelte er über die Jahre die verschiedensten Vertonungsideen, die nur noch auf die passende Gelegenheit warten, endlich umgesetzt zu werden. Dieser lang ersehnte Kontext bot sich nun endlich an und läutet gleichzeitig eine Art spätes Come-Back der längst dem Drogensumpf verfallen geglaubten Waterboys an. „Mit Worten von anderen Leuten zu arbeiten ist etwas, das so natürlich für mich ist, wie mit meinen eigenen Worten zu arbeiten“, sagt Scott über das Projekt. „Auf der einen Seite ist es sogar direkter. Ich habe den Prozess Musik zu schreiben immer als einfacher empfunden als Texte zu schreiben, und Worte mit der Qualität von Yeats in Musik umzuwandeln, ist ein enormes Privileg und besonderes Vergnügen.”
Natürlich steht auch auf ihrem neuen Album die düstere, durch den Konsum von allerlei Substanzen rau und löchrig gewordene Stimme Scotts im Vordergrund, die den lyrischen Vorlagen dennoch erstaunlich behutsam nachspürt und sie klingen lässt, als wären sie eigens für diese Stimme und diese Musik getextet worden. Mit überraschend zarten Arrangements, die man im pathetischen Bombast-Rock dann doch eher selten findet, und einer dank Flöte, Posaune und Englischhorn starken Folk-Betonung lässt Scott Yeats‘ Poesie wirken wie an einem oder für einen verkaterten Morgen danach geschrieben. Als „grandiose Kater-Hymnen“ hat Kollege Christian Preußer sie bezeichnet. Und er hat recht.
Gleich der dritte Song „News For The Delphic Oracle“ ist mit seinem Wechselspiel aus behutsam instrumentierten Teilen und überbordendem Celtrock eines der Highlights des Albums. Aber eigentlich ist es schwer, einen der Songs besonders hervorzuheben. Man hört diesem wilden, bewegten und bewegenden Album an, dass sich Mike Scott sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet hat.
Beirut / The Rip Tide
Wildes und Bewegtes ist man auch vom Band-Projekt Beirut gewohnt. Deren aktuelles Album überrascht jedoch mit ganz neuen Tönen. Wenn Sinnsuche aber eine Form der Poesie ist, dann gehört auch The Rip Tide zwingend in diese Ausgabe von Victoriah’s Music. Immerhin besticht das dritte full-length Release von Beirut nicht etwa durch gewohnt verlässliche Exzentrizität, sondern durch Sehnsucht, Zerrissenheit und Identitätssuche.
Rückblende: 2006 bastelte Szeneliebling und Indie-Wunderkind Zach Condon, nachdem er bereits eine Weile mit LoFi und Doo-Wop experimentiert hatte, mit einundzwanzig Jahren seine ganz persönliche Version von Balkan-Pop, die er in seinem College-Zimmer in Santa Fe, New Mexico mit ein paar befreundeten Musikern aufnahm und als Beirut unter dem Titel Gulag Orkestar herausbrachte. Da er auf diese eklektizistische Weise – hier ein bisschen traditionelle Musik der Sinti und Roma, dort ein bisschen Balkan-Brass, hier ein paar mexikanische Trauermärsche und dort noch etwas Brel und Aznavour – schon Hunderte von Songs eingespielt hatte, dachte er sich nichts weiter dabei. Bis quasi über Nacht der Sturm öffentlicher Begeisterung über den zum Genie stilisierten Condon hereinbrach. Fünf Jahre später ist der Komponist, Bandleader und Multi-Instrumentalist immer noch da.
Nachdem er so viele musikalische Identitäten bis zur Perfektion imitiert hatte, scheint der mittlerweile 26-jährige auf The Rip Tide auf der Suche nach seiner eigenen kreativen Persönlichkeit zu sein. Die äußeren Einflüsse, mit denen er bislang so gekonnt spielte, streift er ebenso ab wie sein Markenzeichen, das Balkanesk-Exzentrische. Natürlich wäre Zach Condon nicht der, der er ist, wenn nicht doch noch ein paar schräge Akkordeon- und Bläserklänge und östlich inspirierte Drumloops Eingang auf The Rip Tide gefunden hätten, beispielsweise auf „Vagabond“. Im Vergleich zu seinen früheren Werken wirken sie aber nur wie ein weit entfernter Widerhall. Nach dem ersten Hören des Albums könnte sich der Beirut-Fan beinahe zu der Behauptung versteigen, dass Condon diesmal ein geradliniges Popalbum produziert hat, das sich in erster Linie durch eine bestechende Einfachheit auszeichnet. Eine Einfachheit allerdings, die erst einmal durch die hohe Schule der Komplexität gehen musste. In der neuen Beirut-Ära ist nichts verloren gegangen, sondern vielmehr in reduzierter Form zusammengewachsen. Gewissermaßen ist The Rip Tide die Essenz jahrelangen Experimentierens, ohne selbst noch einen Hauch Experimentelles aufzuweisen.
„East Harlem“ beispielsweise ist ein fast schon beschauliches Stück Musik, die Single-Auskopplung „Goshen“ eine betörend schlichte Pianoballade, die erst in der zweiten Hälfte durch leise Snares einen dezenten Marschcharakter bekommt. „Payne’s Bay“ kommt als Mischung zwischen kammermusikalischem Streichquartett, Barock-Walzer und den das ganze Album wie ein roter Faden durchziehenden Marschrhythmus samt Rührtrommeln und viel Blech daher. Ein bewusst falscher Tubaton beendet das Stück mit viel Witz und Charme. Ohnehin glänzt The Rip Tide durch großen musikalischen Humor und eine neue Leichtigkeit, die allerdings derart durcharrangiert daherkommt, dass auch hier nur noch wenig an die rumpelige Schlafzimmerstudioatmosphäre von früher erinnert. Mit dem getragenen „Peacock“ und „Port Of Call“, das im Refrain einen osteuropäischen Akkordeonschunkelrhythmus entfaltet, der der ukulelenartigen Akustikgitarrenbegleitung der Strophen diametral gegenübersteht, runden das Neun-Track-Album ab.
Und nicht nur musikalisch, auch inhaltlich geht es in der neuen Beirut-Ära um die Suche nach der eigenen Identität, um die Möglichkeit des Wachstums, ohne sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren, wie beispielsweise auf „Santa Fe“, das die alte Fragen nach den eigenen Wurzeln und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit thematisiert.
Megafaun / Megafaun
Wem das bislang alles zu zartbesaitet und verkopft war, keine Sorge, für den kommen jetzt ein paar echte Cowboys. Bärtige Singer/Songwriter sind ja gerade schwer angesagt, man denke hier nur an Bonnie „Prince“ Billy, Scott Matthew oder auch Justin Vernon. Letzterer gehört zu den Gründungsmitgliedern von Megafaun, spielt aber seit drei Alben nicht mehr mit und feiert stattdessen mit seinem eigenen Singer/Songwriter-Folk-Projekt Bon Iver Erfolge. Seine Megafaun-Kollegen Joe Westerlund sowie die Brüder Phillip und Bradley Cook haben mit dem melancholisch-depressiven Liedgut Vernons indessen nichts am Hut und machen statt dessen Musik irgendwo zwischen Mid-Tempo-Rock’n’Roll, Freejazz und Delta Blues, rumpelig, erdverbunden und ganz gewiss nicht kopfstimmenjammerig.
Die drei Megafaune spielen das, was gern als „ehrliche Musik“ bezeichnet wird, ob nun sonnenflirrenden Westcoast-Country-Rock, Blues-, Country-, Roots- und vor allem Folk-geprägte Americana oder ob sie gar gelegentliche disharmonische und wild-perkussive Ausbrüche wagen – alles bleibt sehr bodenständig. Was nicht heißt, dass auf Megafaun nicht ab und zu auch elektronische Soundscapes für einen Kontrast zum allzu Handgemachten sorgen. Megafaun spaltet sich von den eigenen Americana-Wurzeln gewissermaßen behutsam in die verschiedensten Richtungen aus, zu denen nicht zuletzt Gastmusiker wie Bellafea-Sängerin Heather McEntire oder Bowerbirds-Geiger Mark Paulson beitragen. Da gibt es mit „Hope You Know“ die große Rock-Piano-Ballade, das zwischen Zirkus und Free Jazz mäandernde „Isadora“, das sich zuletzt als schlichtes, posauenenbegleitetes Volkslied entpuppt, oder den aus Sprachcollagen und Speed-Squaredance-Music zusammengesetzten experimentellen Hidden Track.
Populäre US-amerikanische Musikgeschichte im Schnelldurchlauf, gewissermaßen. Und zu guter Letzt hatte Justin Vernon doch noch seine Finger im Spiel, denn das Album wurde Ende letzten Jahres in seinem „April Base“-Studio in Fall Creek, Wisconsin aufgenommen.
Krispin / Gegen die Uhr
Es gibt im Moment soviel Singer-Songwriter-Musik wie schon lange nicht mehr, noch dazu so viel gute. Weshalb also soll man sich mit dem Durchschnittlichen zufriedengeben? Denke ich oft angesichts so mancher Veröffentlichung, die mir ungefragt ins Haus flattert. Die Berliner Band Krispin gehört definitiv zu den Guten. Als „alternativen deutschen Akustikpop“ bezeichnen die beiden Musiker Roland Krispin (Gesang, Gitarre) und Christoph Thiel (Bas, Gitarre, Gesang) ihre Musik. Dabei haben sie mit Gegen die Uhr ein klassisches Liedermacheralbum herausgebracht, das uns neben einem melancholischen Grundton bislang ungekannte, aber dringend benötigte Wörter wie „Straßenbahnschmerzen“ oder „Fliederduftbüsche“ schenkt.
Ach, aber wie das so mit melancholischen Liedermachern ist: Nach einem an Meike Koesters Seefahrerherz erinnernden Auftakt kann man als Hörer spätestens beim dritten Track „Fröhlichkeit und Wahnsinn“ regelrecht depressiv werden. Ein Album, das sich bestimmt nicht empfiehlt, wenn man ohnehin traurig ist, denn statt zu trösten kann einen Gegen die Uhr, für das die Krispin-Jungs Ex-„Poems for Laila“-Sänger Nikolai Tomás als Produzent gewinnen konnten, richtig runterziehen. Da stehen schon einmal Küchenutensilien trostlos in der Ecke, da fährt der Winterdienst ratlos durch die von bleischwerem Schnee bedeckte Stadt, und dass Papierherzen nicht besonders stabil sind, bedarf wohl auch keiner gesonderten Erwähnung.
Leider gibt es auf vielen Liedern von Gegen die Uhr unweigerlich den Moment, wo die Gitarren in die Steckdose gestöpselt werden; und dann wah-waht der Song noch ein bisschen vor sich hin. Dabei müsste das eigentlich gar nicht, denn die Krispin-Lieder sind auch ohne Wah schön. Ganz besonders die, wo Roland Krispins Nichte Julia ganz zauberhafte Background-Vokals flüstert, etwa auf „Nebel“. Der Song schlagzeugbest und schmeichelt sich in die Gehörgänge; aber auch hier bleibt man dem selbst gewählten Depri-Sujet – Abschied und Sehnsucht im Konjunktiv – treu. Nein, optimistisch sind die Lieder von Krispin wirklich nicht. Mit „Schnee“ gibt es eine Nummer in bester Keimzeit-Diktion, was die Musik angeht – thematisch umkreist auch dieser Song Vergänglich- und Endlichkeit. Man muss schon sehr stark sein, um sich nach dem Hören der Platte nicht gleich aus dem nächstbesten Fenster zu stürzen. Am besten hört man sie bei strahlendem Sonnenschein.
Hören indessen muss man sie, weil sie einfach schön ist. Vielleicht sollten wir uns zu Krispin-Hörkreisen zusammenfinden, deren Mitglieder sich gegenseitig Mut zusprechen können. Definitiv enden muss die Listening-Session mit „Kerzen im Kühlschrank“, das einen besänftigt entlässt und bei aller Trost- und Aussichtslosigkeit hier und da einen Hauch Humor aufblitzen lässt. Wobei der bei Krispin eigentlich gar nicht so selten ist – nur eben derart gut zwischen den Zeilen versteckt, dass es manchmal schwerfällt, ihn zu finden. Den Hörer direkt anspringender Witz ist Krispins Sache nicht. Auch die Melodien kicken erst beim zweiten oder dritten Durchlauf, dafür aber umso mehr. Ausnahme: Der Bonustrack „Vergessen“, der im zweiten Teil der Strophe (oder ist das schon der erste Refrainteil? Krispin geben nicht allzu viel auf klassische Song-Strukturen) durch eine wunder- wunderschöne Melodie besticht.
Die auf Mugwort Road Records erschienene Platte bekommen Sie entweder direkt beim Label selbst – oder auf den diversen Seiten der Band, sei es bei Reverbnation oder Myspace.
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Plattenkritik: Ada | Illute | Maria Taylor | Seide | The Waterboys | Beirut | Megafaun | Krispin
- 1 Ada | Illute | Maria Taylor | Seide | The Waterboys | Beirut | Megafaun | Krispin
- 2 Ada / Meine zarten Pfoten
Beginnen wir mit der Kölnerin Michaela Dippel aka Ada. Deren Zweitling Meine zarten Pfoten ist bereits im Juni dieses Jahres erschienen, damals aber komplett an mir – und demzufolge auch an den Lesern von Victoriah’s Music – vorbeigegangen. Leider, muss ich hinzufügen, denn als ich die Platte mit dem rätselhaften Titel kürzlich zum ersten Mal gehört habe, war mir sofort klar, dass es sich hier um eine dieser stillen Schönheiten handelt, die selten sind – und glücklicherweise auch zeitlos. Meine zarten Pfoten passt zum September jedenfalls ebenso gut wie zum Juni, minimalistisch, zart und versponnen, wie sie ist. Ob nun eine Jahreszeit freudig erwartend begrüßt oder wehmütig leise verabschiedet wird – Meine zarten Pfoten ist wie geschaffen für Übergänge, und es wäre schade, die Platte nicht noch einmal in dem ihr angemessenen Rahmen zu würdigen.
Gleich der Opener „Faith“ ist ein Song, der zumindest für mich wie geschaffen ist. Würde ich Musik machen, ich wünschte, sie wäre wie „Faith“: Da gibt es dezentes Elektrogeschnassel und fedrig-leichte Synthieflächen, die sich mit einer zarten Akustikgitarre paaren, es gibt gehauchten Satzgesang, zu dem sich bald verführerisch schleppende Percussions gesellen. Ganz am Schluss hat auch noch ein betörend vor sich hinblubbernder Bass seinen großen Auftritt. Sexy und schlau, eine unwiderstehliche Kombination. Allein für Adas Version von „Faith“, einem Cover der Indieband Lucious Jackson, muss man diese Platte lieben, denn er macht wunschlos glücklich. Und wenn man nur diesen einen Track auf Repeat laufen lässt – er allein lohnt den Kauf. Ich jedenfalls bin hin und weg.
Die übrigen acht Songs können nichts dafür, aber sie erreichen die Qualität von „Faith“ nicht. Was jetzt Jammern auf höchstem Niveau ist, denn natürlich sind auch diese minimalistischen Preziosen mehr als hörenswert. Bei Ada stehen Computer gleichberechtigt neben akustischen Instrumenten, noch dazu hat sie die komplette Platte im Alleingang eingespielt, was schon gehörigen Respekt verdient. „On The Mend“ kreiert eine träumerische Atmosphäre, hat aber, da er jenseits von herkömmlichen Strophe-Refrain-Strukturen ohne Gesang auskommen muss, weniger etwas von einem Song als von einer kleinen Sound-Geschichte. Straßegeräusche hier, skizzierte Flamencogitarren da – klar hat das was von Chill-Out. Aber eben nicht nur. Die Café del Mar-Macher hätten mal bei Ada reinhören sollen, bevor sie ihre Wellenrauschakustikgitarrenbelanglosigkeiten in die Welt setzten. Bei Ada rauscht und zupft es auch – aber eben mit Verstand, Sinn und ganz viel Wärme. Selbst Mopedgeknatter schafft es auf Meine zarten Pfoten, eine wohlige Atmosphäre zu vermitteln.
Ein gewisses Südsee-Flair kann man Meinen zarten Pfoten nicht absprechen, besonders wenn es zu Stücken wie „Likely“ kommt. Nur ist man hier nicht wie bei CdM beim Wollen stehen geblieben, sondern zeigt auch Können. Und das ist immer angenehm zu hören. Und eine schöne Hammond gibt es hier auch noch, sodass „Likely“, dessen Text ausschließlich aus dem komplex arrangierten Mantra Happy or Sad besteht, auf höchst angenehme Weise vor sich hin orgelt. „The Jazz Singer“ wartet auch mit allerlei Glockenspiel, Vibraphon und Harmonica auf, überrascht aber vor allem durch den R&B-Beat und den Gesang im Beyoncé-Stil, wobei auch hier die Grundentspanntheit Adas nicht verloren geht.
Das rein instrumentale Intro ist da schon deutlich nervöser, besticht aber immer noch durch einen butterweichen Bass. Auf der Vinyl-Version von Meine zarten Pfoten eröffnet es die B-Seite und bringt gleichzeitig einen clubbigeren Ton ins Spiel. Spätestens mit „At the Gate“ hat sich das Album zur düsteren House- wenn nicht gar Techno-Platte ausgewachsen. Gäbe es das Genre Organic-House, Ada wäre seine Hohepriesterin, denn sie versteht es, den teilweise an den Nerven zerrenden Beats mit Flughafenatmosphäre eine menschliche Komponente zu verleihen, beispielsweise wenn ein E-Piano das Geschnassel bricht und dann völlig selbstverständlich wieder fortsetzt. Oder ein einsamer Streicher am Schluss dazu fiedelt. Schön, das. Man könnte es auch als Songwriter-Techno bezeichnen.
Einzig „Interlude“ zerrt mit seinen Flötenhöhen dann doch sehr an Nerven und Gemüt. Nicht mal der Samba-Untergrund kann das abfangen. Schade, denn hier gibt es endlich wieder Vocals, auch wenn Ada ihre Stimme oft nur wie ein weiteres Instrument einsetzt und sich der Text auf das Wort „Hey“ beschränkt – ihre Chorsätze sind nichtsdestotrotz immer wunderschön anzuhören! „Happy Birthday“ ist dann wieder eine klassische Housenummer und meiner persönlichen Meinung nach der verzichtbarste (und mit gut sechs Minuten definitiv zu lange) Song des Albums, der vocoderverzerrte Gesang allerdings auch hier hörenswert. Bei den letzten Tracks wird ganz klar, weshalb Ada ihre musikalische Heimat auf Pampa Records, dem Label von DJ Koze, gefunden hat.
Der Schlusstrack „2 Likely“ – eine A-Capella-Reprise von „Likely“, zu der sich ein vertracktes Streichquartett gesellt und allerlei Geräusch passiert – versöhnt allerdings wieder komplett mit dem Album. Auch hier wird in der Ada-typischen Reduziertheit wieder die richtige Frage gestellt, wenn aus „happy or sad?“ „lucky or mad?“ wird. Wozu mehr Worte machen. Der Aufforderung „Keep me in Mind“ des Hidden-Tracks jedenfalls wäre ich gern nachkommen.
Die A-Seite dieser wundervollen Elektroakustikplatte kann man sonntagmorgens im Bett hören, die B-Seite als klassische Chill-out-Platte beim Nachhausekommen nach einer durchgemachten und -wachten Nacht. Und allein das Cover des Zartpföters rechtfertigt den Kauf eines Plattenspielers, falls man bisher keinen hatte. Das muss man einfach in groß haben.
Illute / Immer Kommt Anders Als Du Denkst
Schöne Bilder, viele Akustikinstrumente und singende Computer gibt es auch bei Illute. Atmosphärisch ähnlich wie Ada, wenngleich technisch komplett anders, umkreist die Berliner Illustratorin und Musikerin Ute „Illute“ Kneisel in klugen Worten ihren Themenkreis um Alltägliches und Zwischenmenschliches.
Wenn Ada ein wunderbar zartes Elektronikalbum gelungen ist, dann hat Illute mit Immer kommt anders als du denkst ein herrlich reduziertes Songwriter-Album gemacht, das den Flirt mit Electro-Elementen nicht scheut. Bei beiden Künstlerinnen entfaltet sich die Schönheit im Minimalismus.
Obwohl von Illute einige EPs in Umlauf sind, gilt das bei Analogsoul in Leipzig und Las Vegas Records in Wien erschienene Immer kommt anders als du denkst als ihr eigentliches Debüt-Album. Und tatsächlich hat Produzent Alexander Nefzger Illutes „tiefgründige Fräulein-Musik“ (Lie In The Sound), die im Illute-typischen Sprachmix aus Deutsch, Englisch und Spanisch zum Teil – wie beispielsweise „Viva laIgnorancia“ – schon vor diesem Album veröffentlicht wurde, endlich in die Form gegossen, die sie schon immer verdient hat.
Ein erstes Highlight ist sicherlich „Es wird gehen“, das auf der Platte in ungewohnt rockigem Gewande daherkommt, mit nahezu martialisch anmutendem Schlagwerk und Schwermetallgitarren, die sich zu einer richtiggehenden Wall of Sound steigern. Wandelbar, wie Illutes Lieder sind, habe ich neulich eine ambientige Live-Version von „Es wird gehen“ gehört. Auf der Platte aber bleibt es mit „Ob es genug ist“ und „My Music is a Boat“ erst einmal rockig.
Überhaupt „My Music Is A Boat”! Einmal gehört und verstanden, was ein Freund meinte, als er von Immer kommt anders als du denkst von einer „lebensrettenden Platte“ sprach. Part 1 könnte als Craig Armstrong’sche Score-Music durchgehen, mit seinen ätherischen Pianokaskaden und wabernden Gesang. Wieder so ein Lied, das tagelang auf Repeat laufen kann, ohne dass man seiner überdrüssig wird. Dabei hat gerade der zweite Teil eine Schlagzeug-, Bass- und Gitarrenfront, die sich fast zur Rockoper steigert – niemandem sonst würde ich so etwas verzeihen, aber hier ist es einfach nur verdammt großartig.
„Verschwende deine Zeit“ macht restlos glücklich, ähnlich wie der schmeichelnde Opener „Du bist eine Stimme“. Ein weiterer Liebling – wenn nicht gar der zweite Lieblingssong des Albums – ist „Dünner Tag“ mit seiner gedämpften Swing-Trompete und dem ebenso gedämpften Gesang, der klingt wie durch ein Bändchenmikro aus den Vierzigerjahren aufgenommen. Dazu noch eine Ukulele und sich proportional zum Bläsersatz steigernde Circen-Chöre sowie ein hübscher Text – die Zutaten für den perfekten Song. Je öfter ich „Dünner Tag“ höre, desto mehr läuft er „My Music Is A Boat“ den Rang ab. (Über-)Produziertes gegen Minimalismus – ich kann mich nicht entscheiden. Bei anderen Platten ist man froh, wenn sie einen Lieblingssong enthalten. Auf Immer kommt anders als du denkst gibt es gleich so viele ...
Dazu schimmert bei Illute trotz aller Leichtigkeit und Zartheit immer eine unglaubliche Gefasstheit, ja: Stärke durch. Diese Musik ruht sehr in sich selbst, die Gefahr, dass der nächste Windstoß sie davonträgt, wie das bei ihren ätherischen Kolleginnen oftmals der Fall ist, besteht hier nicht. Geerdet fliegen, das ist es, was man beim Hören von Illutes Musik kann.
Maria Taylor / Overlook
Und gleich noch ein tiefgründiges Fräulein, weil es so schön ist. Die 1976 geborene Indierock- und Folk-Singer-Songwriterin Maria Taylor hat mit Overlook ihr mittlerweile viertes Album veröffentlicht – zählt man die beiden Alben Who Did You Pay (1997) und It's in the Sound (2000) mit ihrer ehemaligen Band Little Red Rocket, drei weitere Alben mit dem Duo Azure Ray sowie die EP Savannah Drive (2008) mit Andy LeMaster nicht mit. Nebenbei hat Taylor noch die Zeit gefunden, für Mobys Album 18 zu schreiben und zu singen. Jemand mit so einem Output ist entweder übernatürlich mitteilsam – oder hat wirklich etwas zu sagen. Im Idealfalle natürlich beides zusammen.
Und Gedanken macht sich Maria Taylor – die allerdings erwartet sie auch von ihren Hörern. So beispielsweise gab sie ihr letztes Album Lady Luck (2009) mit der Anweisung heraus, es im Liegen zu hören, damit man sich richtig darauf einlässt, anstatt nebenbei durch die Wohnung zu laufen und noch andere Dinge zu tun. Und auch Overlook verlangt dem Hörer wieder seine volle Aufmerksamkeit ab. Zu den Aufnahmen ist Taylor eigens wieder aus ihrer Wahlheimat Los Angeles, die ihrem vorigen Album einen Hauch sonnendurchfluteter Leichtigkeit verlieh, in ihre Heimatstadt Birmingham, Alabama zurückgekehrt. Nicht umsonst hat sie ihr Album nach der dortigen Overlook Road benannt. Hier konnte sie sich ganz auf die leisen Töne besinnen, die sich dann auch in der behutsamen Instrumentierung von Overlook spiegeln: Akustikgitarre, Bass, Piano und Schlagzeug. Der Flirt mit den Elektronika der Vorgängeralben scheint endgültig passé. Selbst der Synthesizer wird nur noch zu besonderen Anlässen ausgepackt, beispielsweise auf dem Opener „Masterplan“, der mit seinem treibenden Bass und seinen schlagkräftigen Drums schon fast mit plakativ-pathetischer Rockstar-Attitüde daherkommt. „Matador“ steht dem mit seinem „Everyday is a new day“-Schlachtruf in nichts nach. Folkig-hippiesker geht es da schon auf „Happenstance“ zu, und hier erst entfaltet sich die Magie der Maria Taylor, der auch die Serienproduzenten von Grey's Anatomy, Private Practice oder Scrubs erlegen sind. Ihre Songs laufen im Hintergrund der modernen amerikanischen TV-Serien jedenfalls rauf und runter.
Schon auf „Like It Does“ packt Taylor aber wieder die E-Gitarre aus, ohne aber das Träumerische der Nummer preiszugeben, die eher ans Lagerfeuer als auf die große Bühne gehört. Ohnehin wohnt den meisten Liedern der Maria Taylor eine Intimität inne, die einen zögern lässt, das Album außerhalb der eigenen vier Wände zu hören. Für Mitsinger wie „Bad Idea“ oder „In A Bad Way“ gilt das indessen nicht. Diese Songs schreien regelrecht danach, bei offenem Fenster oder Verdeck gehört zu werden.
Und dann gibt es auch noch Stücke wie „Idle Mind“, denen ein abgrundtiefer Selbstzweifel innewohnt, während „This Could Take A Lifetime“ zwar zerbrechlich, aber dennoch optimistisch daherkommt. Abgerundet wird dieses rundum heimelige, vor allem aber abwechslungsreiche Neun-Track-Album mit dem elegischen „Along For The Ride“, das meiner Meinung nach das verzichtbarste Stück von Overlook ist, es aber auch nicht mehr schafft, das positive Gesamtbild zu trüben.
Seide / Passion, Pain & Poetry
- 3 The Waterboys / An Appointment with Mr Yeats