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Elac Vela

Benjamin Clementine – I Tell a Fly

Es beginnt mit ganz viel Hall und Stimmengewirr. Benjamin Clementines „Farewell Sonata“ ist nur titelseitig ein Abschied, der Song markiert vielmehr den Opener des Albums I Tell a Fly. Das klassische Klavierspiel überzeugt sofort, doch auch dieses ist nur eine kleine Ingredienz des Songs, Clementine lässt ihn mit Gesang und Instrumentierung noch ganz andere Facetten entwickeln. „Farewell Sonata“ ist quasi das Sinnbild des neuen Albums: Der Mix aus Klassik, Jazz und Pop ist ein Experiment, auf Clementines zweiter Platte werden verschiedene Einflüsse vermischt, denen der in London geborene Musiker schon lange nachgeht. Mit klassischer Musik ist er aufgewachsen.

Benjamin Clementine – I Tell a Fly

Der Barock hat es ihm offenbar besonders angetan, Benjamin Clementine benutzt auf I Tell a Fly oft ein Cembalo, das – obwohl eher ungewöhnlich für Popmusik – erstaunlich gut zum Sound des Engländers mit ghanaischen Wurzeln passt. So auch im Eröffnungssong: Das ruhige Klavierspiel wird vom wirren Cembalo aufgegriffen, Clementines Stimme und auch das Schlagzeug setzten pompös und prägnant ein.. Die Dramatik erinnert an Musicals wie der Rocky Horror Picture Show. Die Spannung des Albums baut sich über die ersten drei Lieder auf, gibt einen Vorgeschmack auf das fast sieben Minuten lange „Phantom Of Aleppoville“. Das ausgekoppelte Lied wechselt sequenzartig Stile, enthält minutenlange instrumentale Passagen und kehrt dann zu ursprünglichen Motiven zurück. Dabei durchbricht es jegliche Popsong-Strukturen.

Der Multi-Instrumentalist und Sänger Clementine zieht die Hörer mit auf eine Odyssee, ein Abenteuer. Im Erstlingswerk At Least For Now kam seine wilde Seite selten zum Vorschein. Für das klavierlastige Album bekam er den vielbeachteten Mercury-Preis – eine Ehre für britische Musiker. Mit dem zweiten Album, so scheint es, ist er ein bisschen mehr er selbst. Den Kritikern muss er nichts beweisen – in manchen Texten las man, er fordere die Hörer mit der neuen Musik heraus. Eingängig wie auf dem ersten Album ist sie nicht mehr. Doch hat sie durch die unvorhersehbaren Wendungen an Charakter gewonnen. Die Instrumente auf dem Album hat Clementine fast alle selbst eingespielt. Man spürt, dass Clementine durch und durch nur eines machen möchte: Gute, durchdachte Musik. Das ist ihm gelungen.

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Nai Palm – Needle Paw

Die Sängerin des jazzigen Quartetts Hiatus Kaiyote Nai Palm bringt mit Needle Paw ihr erstes Solo-Werk auf den Markt. So ganz unbekannt sind manche Lieder auf der Platte indes nicht: „Atari“, „Molasses“ oder „Borderline with My Atoms“ sind Songs, die schon auf zwei Alben ihrer australischen Band veröffentlicht wurden. Die Solo-Interpretation mit Gitarre und mehrstimmiger Begleitung bieten trotzdem etwas ganz Eigenes. Wer die soulige Stimme der Sängerin schon in Verbindung mit ihrer Band bewunderte, kommt hier voll auf seine Kosten. Die tiefen Farben und starken Höhen ihres Organs kommen durch die starke Fokussierung auf die nur von Gitarre flankierte Stimme brilliant durch. So fällt schnell auf, dass die Höhepunkte der Arrangements signifikant von der Stimmmelodie profitieren. Die Gitarre liefert die perfekte Basis dazu – doch spielt die Australierin mehr als Wandergitarrenakkorde: Nai Palm wechselt gekonnt zwischen jazzigen Harmonien und zeigt, dass sie auch als Gitarristin nicht zu unterschätzen ist.

Nai Palm – Needle Paw

Auch auf der Tour zum neuen Album performte Nai Palm stets solo mit Gitarre auf der Bühne. Obwohl die Songs zu dem Zeitpunkt noch nicht offiziell erschienen waren, ging dieses puristische Konzept voll auf auf. Songs wie „Crossfire / So Into You“ enthalten mit Anleihen von Tamias „So Into You“ aus den 90er-Jahren vertraute Melodien: Nai Palm erhebt sie jazzig in andere Harmonien. Live kam das Nai Palm zu Gute – das Publikum sang mit. Aber auch ohne Wiedererkennungseffekt hätte Nai Palms Stimme als Highlight vollkommen ausgereicht. Denn sie säuselt, schreit und haucht, wie man es selten erlebt. Diese Vielseitigkeit ist auch auf der Platte ein Spektakel für sich.

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Björk – Utopia

Die neue Platte von Björk steht in einem neuen und positiven Licht. Auf Utopia besingt die wohl berühmteste Isländerin eine bessere Welt – und genauso märchenhaft, träumerisch und verspielt wie die Vorstellung davon, klingt auch die Musik. Björk hat ihre Flöte – das Instrument, welches sie schon als Kind spielen lernte – wiedergefunden. Ihr Gesang zu den zagen Tönen der Flöte in den ersten Liedern ist so sanft und klar, dass man sich Björk unvermittelt mit einem Lächeln im Studio vorstellt. Vorbei sind die Zeiten des krampfhaften, überwältigenden Schmerzes, den sie nach der Trennung von ihrem langjährigen Partner Matthew Barney auf der letzten Platte „Vulnicura“ verarbeitete. Hatte Björk sich dort vor zwei Jahren noch mit herzzerreißenden Schreien und Endlosschleifen in der Orchestrierung ausgedrückt, ist die Veränderung in ihrem Leben nun auch in ihrer Musik auf „Utopia“ angekommen.

Björk – Utopia

Anstelle von Streichern dominieren dort gezupfte Saiteninstrumente und besagte Flöten. Björk besingt neue Verbindungen, ihre positive Einstellung und dass sie sich dem schönen Leben hinzugeben vermag.

Utopia beginnt mit Vogelgezwitscher, Harfenklängen und einer aufstrebenden Melodie. „Awaking the senses“ singt sie im ersten Song und beschreibt ihre Gefühle einer neuen Liebe. Ihr musikalischer Partner Arca, der sie schon auf der letzten Platte unterstützte, steuert hier und in weiteren Songs die klackernden Rhythmusakzente und elektronische Untermalung bei. Die Verbindung zu dem 25 Jahre jüngeren venezolanischen Musiker betonte Björk immer wieder in Interviews. Keiner könne ihre Gefühle musikalisch so gut ausdrücken wie er. Vielleicht beschreibt sie diese Verbundenheit auch auf dem Song „Blissing me“, wenn sie von zwei Musik-Nerds singt, die sich über den Austausch von Musik ineinander verlieben.

Der wohl beeindruckendste Song auf dem Album ist „Body Memory“: über knapp 10 Minuten baut er sich auf. Unterlegt von einem Klangteppich aus Flötentönen geht Björk lyrisch durch die Phasen eines Lebens. Sie besingt nach und nach ihre Herkunft, ihr Schicksal, die Liebe, Sex, eine Club-Szene, die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau und bleibt bei ihrer eigenen Zukunftsvision unsicher. Mit jedem Chorus, der die hinterlegten Eigenschaften unserer Körper beschreibt, wird sie zuversichtlicher, teilweise von den vielen Stimmen eines riesigen isländischen Chores getragen. „Body Memory“ erscheint wie ein Querschnitt durch das Leben. Mit 52 Jahren erlaubt sich Björk, Bilanz zu ziehen und ihre Erfahrungen der ersten Lebenshälfte zusammenzutragen.

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