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Juni 2010 / Victoriah Szirmai
Absinto Orkestra / Gadje
Lange ist es mir nicht mehr passiert, dass mich ein Lied über Tage verfolgt, bis in meine Träume dringt, ich es morgens und mittags und abends vor mich hin summe … Genau genommen war es letztes Mal Come Marry Me von Ms. Platnum und Peter Fox, ein Ohrwurm, den ich bis heute nicht richtig losgeworden bin.
Und jetzt habe ich wieder so ein Lied, das eine unglaubliche Sogwirkung entwickelt, zwar nicht beim ersten Hören, aber dann bald … ganz bald! Die Rede ist von Wohin die Reise geht, dem ersten Song des neuen Albums Gadje vom Absinto Orkestra. Was man hier von den fünf Jazzern, die sich der Musik der osteuropäischen Roma verschrieben haben, auf fünf von vierzehn Stücken zu hören bekommt, noch dazu völlig Genre-unüblich auf deutsch, sind keine Übersetzungen von Traditionals, sondern ganz eigenständige Text-Schöpfungen (dasselbe gilt übrigens auch für die Musik, auch wenn sie klingt, als sei sie seit Jahrhunderten in dieser Form tradiert). Wohl noch nie bin ich auf jemanden getroffen, der es versteht, die Quintessenz dieser so unbezähmbar lebensbejahenden und dennoch latent wehmütigen Musik, die nur für den Augenblick lebt, in Worte zu fassen: Die Nacht ist jung, wir sind es auch/singen ein Lied aus Schall und Rauch …
Texte sind in diesem Genre, das immer Durchdringung und Verarbeitung mehrheitsgesellschaftlicher Musikformen war und vorrangig zur Tanz und Unterhaltung diente, recht eigentlich nicht vorgesehen, gehören zur traditionellen Besetzung sogenannter „Zigeunerkappellen“ doch in erster Linie Geige und Kontrabass, ferner Klarinette, Blechblasinstrumente und das ungarische Cymbal, aber mitnichten ein Sänger. Und doch gelingt es Absinto-Texter Hans Bender, der gleichzeitig als Kontrabassist der Band fungiert, den musikalischen Geist in Worten einzufangen: „Mich fasziniert diese dritte Dimension, die entstehen kann, wenn Musik und Text aufeinander treffen. Da gibt es einen Punkt, wo die Worte auf einmal viel mehr transportieren als vorher und auch die Melodie bekommt einen Charakter, den sie alleine nicht hatte.“ Und tatsächlich muss man jemanden, der mit Seemannsstimme Zeilen singt wie Was heute Wurst, war gestern Schwein/wir können trotzdem Freunde sein, einfach lieben.
Nicht zuletzt werden aktuelle Befindlichkeiten auf den Punkt gebracht: Im Westen gibt’s nichts Neues und im Osten fehlt der Schwung … Der Gesang ist einfach und geradlinig; manchmal, wie bei Sieben Sachen, erinnert er an das Irrenhaus von Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang. Vielleicht aber auch nur ob der Verwandtschaft des bittersüßen Sujets, das kein Pathos zulässt: Die Straßen sind verlassen / und die Sonne macht sich rar / wir haben ganz vergessen, dass es einmal anders war …
Die zunehmende Verödung ganzer Landstriche, die Enttäuschung über den einst im gleißenden Lichte der Verheißung erschienenen Goldenen Westen und der Rückblick auf so manche Irr- und Umwege … Resignation einerseits (Es gibt nicht viel zu lachen, darum lacht auch niemand mehr) und unbestimmter Aktionismus andererseits (Und nimm die Hände aus den Taschen, es muss weitergehn) trifft wohl perfekt das Lebensgefühlvon all jenen, die zur Zeit der Wende zwischen zwanzig und vierzig waren, und zwar ganz un-ostalgisch. Verblüffend, wie gut zu diesen zeitgemäßen Texten der tradierte Musikstil passt.
Überhaupt die Musik! Viele der heutigen Möchtegern-Balkan-Kapellen können hier etwas lernen: Genau so muss man es machen und nicht anders! Die Mitglieder des Absinto Orkestras klingen, als hätten sie osteuropäische Tanz-Folklore mit der Muttermilch aufgesogen, tatsächlich aber sind die Musiker, und so erklärt sich auch der CD-Titel, allesamt „Gadje“ – das ist das Roma-Wort für Nicht-Roma, so wie das jiddische „Goj“ (bzw. „Gojim“ in der Mehrzahl) die Nicht-Juden bezeichnet. Da tun sich also fünf Gadje-Jungs zusammen und spielen, als seien sie die Sprösslinge eines versierten Siebenbürgener Musiker-Klans … das ist schon allein aus (musik-)ethnologischer Sicht ganz erstaunlich. Und spätestens, wenn man die Fiedel auf dem zweiten Track Fata Morgana hört, weiß man, weshalb die sogenannten Zigeunerkappellen und die jüdischen Tanzkappellen – wobei hier eine gehörige Portion romantizistisch verklärte Exotisierung und Folklorisierung eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte – im historischen Kontext oftmals bevorzugt von der christlichen Umwelt engagiert wurden.
Dank der abendländischen Kultur ursprünglich fremden – wenngleich dem europäischen Gusto sehr angepassten, man denke hier an „exotische“ Restaurants, die ihre Speisen für den heimischen Gaumen entsprechend modifizieren – Tonmodulationen werden hier allerlei Sehnsüchte bedient und Projektionen geweckt. Das Klischee des „Zigeunergeigers“ tut sein übriges. Entgegen allen kulturimperialistischen Gemeckers: Der Absinto-Geiger Jolly Reinig ist klasse. Und wer immer auf Track 9 (Irish Coffee) Violine und/oder Viola spielt (Almut Ritter ist hier Gastgeigerin), der kann es! Ich habe zwar eine Weile gebraucht, mich an die Tonalität zu gewöhnen, bin ich doch musikalisch eher durch kühle Klangvirtuosen wie Raúl Kaplún, Mario Abramovich oder Szymsia Bajour sowie den – allen gemein-blöden Bratscher-Witzen zum Trotz – großartigen Jean-Luc Aisemberg sozialisiert, und – ja, ob des Klischees haben mich schon so einige aufgezogen – auch bei mir Zuhause steht eine Fiedel in der Ecke, wenngleich sie nicht mehr gespielt wird. Schade eigentlich, und das Absinto Orkestra macht mir wieder Lust darauf!
Um aber bei Gadje zu bleiben: Wenn Mario Abramovich Haute Cuisine ist, dann ist das Absinto Orkestra ehrliche, gute Hausmannskost. Auf Frankas Reich kommt durch den 3/4-Rhythmus und das klagend lang gezogene Akkordeon ein leichtes Gefühl von einem Tango-Milonga-Waltz auf, während Stadt der Liebe schon ein nahezu Louisan’scher Track ist, dabei wünsche ich dieser Platte wirklich mehr und vor allem andere Hörer als das übliche Annett-Louisan-Chanson-Folk-World-Publikum. Jovana Jovanke scheint mir fast eine instrumentale Reprise vom Opener Wohin die Reise geht – was für eine schöne Melodie, die wird man so schnell nicht mehr los, aber das sagte ich bereits …
Natürlich ist auch der Name der nach Eigenauskunft aus „zwei vom Django-Reinhardt-Virus infizierten Gitarristen, einem Csárdás-spielenden Geiger und einen durch die Jazz-Clubs tingelnden Kontrabassisten“ bestehenden Band Programm. Gesoffen wird beim Absinto Orkestra viel. Ob auf Wohin die Reise geht („Wir schenken ein, wir trinken aus“), Männer („Männer in der Nacht/die müssen trinken“) oder Komme was da wolle („Komme was da wolle/trink ein bisschen, tanz ein bisschen/und was morgen wird – wir werden sehn“) – der Absinth fließt. Doch am wichtigsten ist: „Und vor allen Dingen/gab es alle Nase lang ein neues Lied zu singen!“
Plattenkritik: Absinto Orkestra | CocoRosie