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Alphabet Backwards | Little Victories

Inhaltsverzeichnis

  1. 2 Alphabet Backwards | Little Victories

Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Driving Mrs. Satan | PET | Bartmes | Spaniol4 | Christian Bakanic’s Trio Infernal | Valerie Sajdik | Alphabet Backwards | Holler My Dear

Christian Bakanic’s Trio Infernal | Tangarta

Christian Bakanic's Trio Infernal | Tangarta Cover

Beim Auftakt erinnert die Mischung aus Akkordeon-Tango und modernen Club-Grooves an Electrotango-Formationen wie den Bajafondo Tangoclub oder The Gotan Project – ist aber weit mehr als ein weiteres ehernes Vorhaben, die angestaubten bonarenser Klänge dancefloortauglich zu machen. Dazu ist Tangarta zu sehr Jazz. Mit zu vielen klassischen Anklängen, was eine Positionsbestimmung dieser Musik schwer, sie aber nichtsdestoweniger hörenswert macht. Anders gesagt: Die Pole der Klangwelt vom Trio Infernal liegen nicht nur zwischen Astor Piazolla und Richard Galliano, sondern weiten sich bis zu Eric Satie, der die Komposition „Gymnopedie Nr. 12“ beigesteuert hat – von einem Cover kann man in diesem Zusammenhang ja wohl eher nicht sprechen –, und Rage Against The Machine, aus deren Feder „Know Your Enemy“ stammt, während die übrigen neun Stücke Originalkompositionen des Trios sind.

Christian Bakanic's Trio Infernal | Tangarta 5.1

Und die halten vor allem den Respekt vor Traditionen hoch, wie Trio-Mastermind Christian Bakanic betont. Gemeinsam mit Christian Wendt am Bass und Jörg Haberl am Schlagwerk spürte er ihnen schon im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends ausgiebig nach, als man noch gemeinsam bei der Progressive-Folk-Formation Beefolk in der Steiermark spielte. Es mag sich noch nicht überall herumgesprochen haben: Am Ruf der Steiermark als Wiege österreichsicher Musikinnovatoren ist aber definitiv etwas dran. Vor allem, wenn es darum geht, das Akkordeon von seinem verschlafen-folkloristischen Image zu befreien und in den Jazz im weiteren Sinne zu integrieren. „Mit unserem Trio“, so Bakanic weiter, „möchten wir das Akkordeon in einem neuen Licht präsentieren, hat doch das Instrument eine Vielzahl an klanglichen, dynamischen und rhythmischen Möglichkeiten, die unseres Erachtens heute noch viel zu wenig genutzt werden“. Tangarta klingt dann auch nicht wie die Platte eines Akkordeonisten. Mal erinnert die Melodieführung an den sanglichen Sound des Saxophons, mal kommt sie wie aus der Hand eines Organisten daher, mal erscheint sie beängstigend menschlich – Ähnliches habe ich bislang nur von den Bandoneonspielern in Buenos Aires gehört!

Deren Traditionen sind es auch, die – neben klassischen Stilelementen französischer Akkordeonisten und der Spielweise des Balkans – in das epochen- und regionenverbindende Soundkonzept des Trios Eingang gefunden haben, ebenso wie die österreichische Volksmusiktradition, die Bakanic am Grazer Konservatorium studierte. Aufs Trefflichste vereinen sich die vielfältigen musikalischen Bräuche auf der Komposition „Balkanbic“, die allein deshalb mein Anspieltipp ist, weil sie mit einer Hookline aufwartet, die nie wieder aus dem Ohr geht. Wer es anschmiegsamer mag, höre in „Innocent“ hinein, Tango-Nuevo-Freunden sei der Titeltrack ans Herz gelegt – vorausgesetzt, sie scheuen den Tanzboden nicht.

Christian Bakanic's Trio Infernal | Tangarta 5.2

Wo Satie immer ein bisschen nach Kaffeewerbung klingt und das nachfolgende „Unreal“ es etwas an Esprit missen lässt, wecken die magengrubenumdrehenden Bässe von „X-Ray“ wieder aus der Lethargie, vor allem, nachdem sich die Komposition im zweiten Teil als feinstes Drum & Bass-Piece entpuppt. Wer jetzt noch nicht wach ist, gibt sich mit „Puff Dove“ den Adrenalinschock des Tages, um sich zum Schluss zu „Know Your Enemy“ gepflegtem Headbanging hinzugeben. Liebgewonnene Klischees von Akkordeonistenplatten gehören nach Tangarta jedenfalls eingestampft.


Valerie Sajdik | Les Nuits Blanches

Valerie Sajdik | Les Nuits Blanches Cover

Und gleich noch eine Lieblingsplatte. Die kommt von Valerie Sajdik, die manche von Ihnen noch als Sängerin von Klaus Waldecks Retro-Electro-Bossa-Formation Saint Privat kennen dürften, den ich wiederum für seinen Song „Make My Day“ von 2006 ewig bewundern werde. Nun beschert uns Sajdik solo weiße Nächte, und die haben es faustdick hinter den Ohren. Von den im opulenten Wiener Hotel Imperial geschossenen Coverfotos darf man sich ebenso wenig blenden lassen wie vom ersten Stück „Le Sommeil“, das mit seinen jazzig-intimen Edelklängen und einem betörenden Zwiegesang von Sajdiks warmer Stimme und Kontrabass, zu dem sich später ein verhaltenes Piano und noch später dezentes Schlagwerk gesellen soll, noch am ehesten mit der eleganten Schwarzweißoptik korrespondiert und an die ruhigeren Nummern Khadja Nins erinnert, um dann kichernd in französisch-chansoneske Lebensleichtigkeit auszubrechen.

Valerie Sajdik | Les Nuits Blanches 6.1

Aber schon mit der zweiten Nummer „Le Sorbier“ belehrt das von Samuel Devauchelle produzierte Album den Hörer eines Besseren. Die wartet nicht nur mit einem amtlichen Wechselbass, sondern auch einem ausgewachsenen Kosakenchor auf. Fortan mäandern Sajdiks weiße Nächte irgendwo zwischen Tango, Chanson und Kabarett, und spätestens da, wo man den Text des quadrilingualen Albums versteht, ist klar, dass die Wiener Sängerin mit russischen Wurzeln alles andere als den Soundtrack zur Stillen Nacht am Kamin geliefert hat: So lässt sie ihre Englein nicht keusch umherschweben, sondern eben mal auf Opiumwolken wilde Sexorgien feiern („I Spy On You“), während die Katze – miau! – auch gleich noch en passant begraben wird – und all das im Gewand eines James-Bond-Soundtracks. Kein Schelm, wer dabei an Kreisler denkt!

Ganz groß auch „Métropolis“ und „Comme Ça“ – letztere eine dieser wunderbaren Wolf-im-Schafspelz-Nummern, die sich vordergründig als harmlose Kreuzfahrtbeschallung ausgeben, im Kern aber brodeln. Gepflegte Langeweile sieht anders aus, wenn Sajdik den ihr zu nahe getretenen „Sir“ verbal federt und teert, um ihn dann, gleich noch eine Beatles-Anspielung verbratend, „back to the USSR“ zu senden. Man muss kein Russisch gelernt haben, um den darauf folgenden Einwurf „Nu, davai!“ urkomisch zu finden – vor allem, weil die Sängerin ihrem Sir danach ganz nüchtern und sachlich aufzählt, welche Reisemöglichkeiten er hat. Das hat schon was von „50 Ways to Leave your Lover“, und das „Cabaret“-Zitat „Auf Wiedersehen!“ gibt dem Hörer, beziehungsweise dessen Lachmuskeln, den Rest.

Valerie Sajdik | Les Nuits Blanches 6.2

Valerie Sajdik hat eine jener Stimmen, die, und schon wieder muss ich an Kreisler denken, ganz beiläufig von bitterbösen Begebenheiten erzählen können – sofort glaubt man ihr, dass sie maliziös lächelnd mal eben den Nachbarn zum Frühstück verspeist, wenn er sich nicht vorsieht. Die Unmittelbarkeit, mit der sie den Hörer trifft, mag auch darin begründet liegen, dass das Album viele First Takes beinhaltet. Es ist etwas für die Tagträumer, die Schlaflosen und nicht zuletzt jene, die mit einem musikalischen Humorverständnis à a Tiger Lillis gesegnet sind. Dass sie auch ernst kann, zeigt Sajdik mit einem traumverlorenen Cover von Doublés „Captain Of The Heart“ und einem Hidden Track, auf den sich zu warten lohnt.

Alphabet Backwards | Little Victories Cover

Das jüngst überstandene Weihnachtsfest haben uns Alphabet Backwards mit „Dearest Santa“ – und dem dazugehörigen, zum Niederknien hübschen Scherenschnittvideo – versüßt. Das werden Sie auf der von Primal-Scream-Produzent Brian O’Shaunghessy verantworteten Albumveröffentlichung Little Victories zwar nicht finden – dafür aber tonnenweise reinste, ganzjahrestaugliche Indiepopfreuden.

Alphabet Backwards | Little Victories 7.1

Die 2008 in Oxford gegründete Band um Leadsänger und Songwriter James Hitchman, Rob Thomas an den Keys, Paul Davidson am Schlagzeug und die Geschwister Josh und Steph Ward (Bass und Vocals) macht übermütige, bestgelaunte und immer leicht Sechzigerjahre-geprägte Popmusik, die mal an die frühen Beatles, mal an Simon & Garfunkel erinnert. Für Letzteres sorgt insbesondere der zweistimmige Gesang von Hitchmann und Ward, während uns das Konzept von männlichen und weiblichen Leadvocals, mal zweistimmig, mal einander abwechselnd, gerade erst bei Mister And Mississippi begegnet ist. Vokalpaarungen dieser Art, die ihren Höhepunkt ebenfalls in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren hatten – man denke hier nur an Sonny & Cher, Ike & Tina oder Marvin Gaye und Tammy Wynette bzw. Diana Ross –, scheinen gemeinsam mit dem Popsound jener Tage ein wahres Revival zu erleben. Und das schadet auch nicht, wenn dabei Platten wie Little Victories herauskommen.

Hier gibt sich Popmusik noch unschuldig, aber verheißungsvoll: Welche der sich vor dem Hörer auftuenden Möglichkeiten möchte er nutzen? Was kostet die Welt? Alphabet Backwards gelingt es, dass man sich vorkommt, wie am Tag der Schulentlassung: Jetzt ist alles möglich. Aber erst einmal winkt eine schier nicht enden wollende Freiheit. Und die will gefeiert werden. „Genieße dein Leben“, rufen die Musiker dem Hörer in „Big Top“ zu, während ein überbordendes Honky-Tonk-Klavier wie auf der Singleauskopplung „Ladybird“ oder ein karibischer Calypsobeat wie auf „Screenplays“ die Leichtigkeit, ja, den an Leichtsinnigkeit grenzenden Optimismus untermauern, mit der Alphabet Backwards die kleinen und größeren Tücken des Alltags meistern.

Alphabet Backwards | Little Victories 7.2

Man hört. Erinnert sich. Und fühlt sich plötzlich wieder wie neunzehn. Für diese spontane Hörerverjüngung sicherlich nicht ganz unerheblich sind auch die Themen der Oxforder. Die wollen ebenso wenig die Welt retten wie den Hörer mit selbstzerfleischender Innenschau belästigen. Die singen in aller Unschuld von gebrochenen Herzen, Liebe und Lust; und spätestens, wenn sie ihre Sha-la-la-Chöre anstimmen und noch Streicher und Trompeten mit ins Boot holen, wird sich auch der größte Griesgram eines zuckenden Mundwinkels nicht erwehren können, der sich mit fortschreitender Abspieldauer von Little Victories zu einem profunden Lächeln auswächst, das den ganzen Tag nicht mehr weichen will.

Holler My Dear | Have you seen the troll

Holler My Dear | Have you seen the troll Cover

Zu guter Letzt gibt es mal wieder traumhafte Töne aus dem Hause Traumton. Bei unserem kleinen Berliner Lieblingslabel befinden sich Holler My Dear, eine wilde, mandolinen-, trompeten-, akkordeon- und rhythmusgruppenbewehrte Truppe um die Grazer Sängerin und Songwriterin Laura Winkler, mit Künstlern wie Tobias Preisig, Lea W. Frey oder Bobo und Herzfeld in bester und vor allem passender Gesellschaft.

Was die Deutsch-Österreicher auf Have you seen the Troll? so treiben, ist nicht wirklich als Jazz zu bezeichnen, aber auch schon längst kein Pop mehr. Doch wo andere in der Schnittmenge der beiden Genres in die Beliebig- oder gar Belanglosigkeit verschwinden, bezaubern Winkler und ihre Mannen mit so viel Ungezwungenheit und Charme, dass man als Hörer gar nicht anders kann, als sie liebzugewinnen, noch dazu, wo sich die Texte im Gegensatz zum fantastisch versponnenen Albumtitel als eher bodenständig denn poetisch verbrämt erweisen: Da kommen die Straßen Berlins ebenso vor wie Disney World oder Sängerin Björk. Angesichts des akkordeonlastigen Auftaktes fragt man sich aber erst einmal unwillkürlich, ob man nicht vielleicht Christian Bakanics Tango-CD im Abspielgerät vergessen hat. Hat man nicht, wie sich schnell herausstellt. „Listen!“ besticht nicht nur durch seine rhythmische Prägnanz , die den Hörer grooven lässt – auch vertreiben Zeilen wie „Go outside, smell the sunshine“ schnell alle Tangowehmut und lassen den besungenen Sonnenschein in die Hörerherzen einziehen.

Holler My Dear | Have you seen the troll8.2

Das ändert sich mit dem trompetendominierten „Like Nothing Is Wrong“. Hier ist’s dunkel und Moll und Albtraum und Nacht. Ohnehin war die wehe Welt des Tango nicht das schlechteste Stichwort, denn auf „Let’s Not Talk About It“ haben wir es mit einem Salontango-Marsch-Rhythmus im Stechschritt zu tun, deren genau dagegen gesungene Vocal-Line einen tollen Effekt hervorbringt. Die Todestrompeten von vorhin verwandeln sich hier in himmlische Fanfaren, die das Hallelujah blasen, wobei Trompeter Stephen Moult auch noch als Rapper herhalten muss. Das ist schon ganz großes Kino! Der Titeltrack dagegen erinnert in seiner Eigenwilligkeit an Olivia Trummer, vereint darüber hinaus aber auch die folkige Vokalharmonik Simon & Garfunkels sowie die rhythmische Komplexität US-amerikanischer NuSoul-Sänger à la India.Arie in sich, während es bei „Point of View“ zurück zur tangoesken Akkordeon-Tonalität geht, die hier mit Balkanwechselbass, aber ohne genretypische Exzesse in zunächst abgemilderter Form ganz smooth daherkommt, um sich dann in wildem Fanfarenjubel zu ergehen – ein absolutes Lieblingsstück!

Dagegen müssen „Any Time“ und „My Little Song To Fix It“ zwangsläufig abfallen. Das heißt jetzt nicht, dass das Album hier einen Hänger hat – diese Band, das merkt man recht schnell, kann so etwas wie einen Hänger gar nicht haben! Ich beschwere mich hier auf hohem Niveau, und es soll nicht ungesagt bleiben, dass die bezaubernden Zwiegesangsharmonien vom „Little Song“ den Kritiker auch schon wieder ganz versöhnlich gestimmt haben. Spätestens mit dem nächsten Stück, dem zu wildem Durchs-Zimmer-Getanze animierenden, dezent orientalisch angehauchten Beatburner „Disappear me“, geht die Liebe zu Holler My Dear in die nächste Runde. „Disappear my vision, disappear my mission, disappear my part time superstition“, shoutet Winkler und erinnert dabei an die Stucky, wenn sie die Jazzpoetin gibt. Angesichts von „Disappear me“ ist „Point of View“ Schnee von gestern – wer auf einen Anspieltipp aus ist, hier ist er!

Holler My Dear | Have you seen the troll 8.3

Da hätte es der Schlussballade nicht mehr bedurft – zumindest nicht, bis sie bei 2:18 mit gegeneinander versetzten Vokallinien in einen Sechsachteltakt eintritt, in denen sich männlicher und weiblicher Gesangspart mal umschlingen, mal abstoßen. Schöner lässt sich das alte Spiel aus Entgegenkommen und Entziehen kaum darstellen, einmal mehr das längt gefällte Urteil bestätigend: Was Holler My Dear machen, ist einfach nur völlig großartig.

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Antipodes Häae

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