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Claudia Brücken – The Lost Are Found

Februar 2013 / Victoriah Szirmai

„Claudia Brücken könnte von mir aus auch ‚Hänschen klein‘ singen, ich mag einfach ihre Stimme“, schreibt ein begeisterter Hörer auf Amazon, und andernorts bringt ihr ihr unverwechselbar kühles Organ sogar Vergleiche mit Marlene Dietrich ein, wie sie zuletzt nur Martina Topeley-Bird zuteilwurden, deren Titulierung als „Circe des Pop Noire“ auch für Frau Brücken ein passender Beiname wäre. Schließlich ist sie uns vor allem aus ihrer Zeit bei der sagenumwobenen Düstersynthpop-Formation Propaganda im Gedächtnis geblieben, wo sie im Verbund mit Susanne Freytag schwermütigen Teenagern einen ernst zu nehmenden Gegenentwurf zum fröhlichen Zuckerwattepop der Achtziger bot. „Die Leute“, erinnert sie sich lachend im Interview, „hatten echt Angst vor uns!“

Doch wer von dem neuen Album Claudia Brückens jetzt computerkühlen Wavesound à la Propaganda erwartet, muss zwangsläufig enttäuscht werden. The Lost Are Found bietet keine Rückfahrkarte für Eighties-Nostalgiker, sondern vielmehr die Chance, gemeinsam mit Brücken und ihrem Produzenten Stephen Hague erwachsen zu werden – oder zumindest reifer und weiser.

Claudia Brücken The Lost Are Found Cover

Der legendäre Synth- und Britpop-Produzent (u.a. OMD, Pet Shop Boys, New Order, Erasure, Siouxsie and the Banshees, Blur, Robbie Williams) hat den Sound des Albums derart maßgeblich geprägt, dass Brücken es lieber als Gemeinschaftswerk denn als Soloalbum bezeichnen möchte. Nicht zuletzt war es auch Hague, der sie überhaupt zum Covern brachte, wenngleich aus einem eher prosaischen Grund: Man wollte unbedingt so schnell wie möglich zusammenarbeiten – und die Arbeit an einem bereits vorhandenen Song geht nun einmal schneller von der Hand, noch dazu, wenn man sich selbst als eher langsamen Songschreiber bezeichnet. Die Auswahl der Stücke selbst war eine Art Reise durch den Soundtrack der Jugend von Hague und Brücken, eine Huldigung an ihre Idole, besticht aber auch mit eher unbekannten aktuellen Stücken.

Unbekannt ist überhaupt ein gutes Stichwort, denn nicht zuletzt hierauf hebt der Titel The Lost Are Found ab. Es geht um eher an den Charts vorbeigegangene Stücke, B-Seiten und andere Raritäten, die von Brücken und Hague wiederentdeckt wurden und jetzt mit einem winzigen Touch pädagogischer Absicht unters Volk gebracht werden: Seht, welch schöne Stücke es gibt, sind sie nicht zu schade zum vergessen? Sind sie, doch kann man den beiden Perlentauchern nicht nur ein Händchen für die Songauswahl bescheinigen, sondern auch eins für die richtige Reihenfolge, erzählt The Lost Are Found doch eine große Geschichte mit Anfang, Höhe- und Endpunkt.

Kein Wunder, dass Brücken mit der heutigen Mentalität einiger Hörer, nur einzelne Lieder zu kaufen, wenig anfangen kann. Schließlich ginge hierbei die Idee des Albumkonzeptes verloren, dabei wolle und solle man die Stücke doch in dem Kontext hören, die der Künstler für sie vorgesehen hat! Und so ist The Lost Are Found dann auch konsequenterweise als Vinylalbum konzipiert: Mit „Crime“ endet Seite A. Diesen konzeptionellen Schnitt hört man auch auf der CD-Version des Albums, es ist aber, geschuldet dem Gedanken an zwei Seiten, natürlich als LP erhältlich.

Claudia Brücken The Lost Are Found 1.3

Der von David Lynch betextete Opener „Mysteries of Love“ überrascht erst einmal, wirkt er doch richtiggehend sakral, wie man es eher von einer Loreena McKennitt oder einer Susanne Sundfør erwartet hätte – ein Effekt, der vor allem auf der Tatsache basiert, dass das Stück auf jegliches Schlagzeug verzichtet, während die geistige Atmosphäre vom durchgehenden Orgelpunkt und dem ätherischen Gesang mit viel, viel Hall und einer melodischen Ornamentik, die an Kirchenlieder erinnert, noch befördert wird. Man habe hier, so Brücken, gleich die Marschrichtung des von ruhigen Tönen dominierten Albums angeben wollen, und diese stehen der gereiften Diva und ihrer Stimme ausnehmend gut.

Auf Poppiges muss aber dennoch kein Hörer verzichten, denn schon auf dem zweiten Stück, dem Stina-Nordenstam-Cover „Memories of a Colour“ mit seinem sexy Stop&Go-Breakbeat, wird es elektronisch. Hier trifft Madonna auf modernen R&B, und beim Refrain gucken sogar ganz kurz mal „Sign your name“-Percussions um die Ecke. All das eine schöne, schwarzlichtschillernde Reminiszenz an die Discopop-Phase der Achtziger, die dank Hagues weitsichtiger Produktion dennoch nie retro klingt. Auch Stück drei, das Dubstar-Cover „The Day I See You Again“ kommt vordergründig im unkomplizierten Synthiepopgewand daher, erinnert aber von seinem epischen Erzählhabitus sowie der Melodieführung an moderne Murder Ballads wie etwa „Where the wild roses grow“. Und dann hat auch schon der Mann seinen großen Auftritt, der der Brücken Idol und Inspiration ist: „Everyone Says ‚Hi‘“ ist ein Bowie-Song, der hier klingt, als sei er direkt aus den Schalllöchern des Electric Light Orchester hervorgequollen, während das Folgestück „One Summer Dream“ tatsächlich eine ELO-Komposition ist, die bei Brücken und Hague allerdings als elegische Gitarrenpop-Nummer mit Synthstreichern daherkommt und eher an die französischen Elektro-Träumer Air erinnert als an die klassikrockenden Briten – dieser „Summer Dream“ ist auch nicht unbedingt eine Limonaden-Beachvolleyball-Bikiniveranstaltung!

„Crime“ ist eine weitere Komposition der publikumsscheuen Stockholmer Jazzsängerin Stina Nordenstam, bei der moderne Electropopkünstlerinnen wie Ada oder Dillon anklingen – auch hier fällt vor allem die absolut zeitgemäße Produktion ins Ohr, mit der Stephan Hague einmal mehr beweist, dass er nicht bei seinen Achtigersynthpop- und Neunzigerbritpop-Erfolgen stehen geblieben ist. Dieser Mann weiß definitiv, was heute cool ist! Dabei schmeichelt sich „Crime“ so entspannend, gleichzeitig aber so clever in die Gehörgänge, dass sämtliche Relax- und Lounge-Compilations vor Neid aus den Regalen fallen müssen. Der perfekte Soundtrack, sich gepflegt zu betrinken.

Claudia Brücken The Lost Are Found 1.1

Mein persönlicher Lieblingstrack ist aber „The Road To Happiness“, das im Original von den britischen Alternativrockern The Lilac Time um Stephen Duffy stammt. Wie Brücken die einzelnen Silben des Wortes „happiness“ zieht – das ist so schön, und andererseits auch so typisch für die Platte. Stundenlang könnte ich dem zuhören. Nicht zuletzt ist „The Road To Happiness“ der Schlüssel zur Meta-Geschichte von The Lost Are Found, wird hier doch erzählt, dass man auf dem Weg zum Glück durch die Hölle gehen muss – und dass es sich lohnt, denn schließlich habe man kein Album machen wollen, „das so depressiv ist, dass man sich die Handgelenke aufschneidet“, sondern eines, dass auch in der tiefsten Dunkelheit einen – wenn auch schwachen – Hoffnungsschimmer vermittelt. Vielleicht gefällt „On The Road To Happiness“ auch darum so gut, handelt es sich hier doch um nichts Geringeres als die musikgewordene Hoffnung. Muss man einfach mögen.

Weitaus weniger pathetisch kommt das gleichzeitig nervöse und getragene The Pet Shop Boys-Cover „King’s Cross“ daher, das vor allem durch seine abgefahrene Koda besticht, wo das Synthieorchester mit einmal von wildgewordenen Bläsern verstärkt wird, die nicht nur den Tanz am, sondern auch den Sprung über den Abgrund wagen. Danach braucht man dringend die „The Burt Bros“-Komposition „No One To Blame“, die nicht nur eine der wenigen echten Balladen des Albums ist, sondern gleichzeitig dessen einziger Nicht-Coversong, auf dem sich die Chanteuse als hervorragende Electro-Torch-Interpretin präsentiert. Reiner Pop, reines Glück!

Das „Bee Gees“-Cover „And the Sun Will Shine“ wiederum täuscht den Hörer, indem es sich zunächst unter dem Deckmantel eines kleinen Waltzes verbirgt, sich dann aber als ganz großes Theater über schrammeligen Indiegitarren entpuppt. Die volle Kanne Synthiestreicher allerdings ist ein Quäntchen „too much“ und musikalisches Pathos pur. Im Gegensatz zu „On The Road To Happiness“ bleibt festzuhalten: Kann man mögen. Muss man aber nicht. Mit dem The Band-Cover „Whispering Pines“ und seiner blubbernden Raumschiffatmosphäre, der ein ruhiger Besenschlagzeugblues zugrunde liegt, bringen Brücken und Hague das Ding dann aber sicher nach Hause. Tolle Nummer, tolle Interpretation, tolles Album – eine unbedingte Empfehlung!

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