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Boy – Mutual Friends

September 2011 / Victoriah Szirmai

Ich bin mal wieder verliebt. Verliebt in einen Song. Drive Darling heißt er, und er begleitet mich schon seit einigen Wochen. Am Anfang, als sich unsere Beziehung noch in jenem filigranen Stadium befand, wo alles neu und aufregend, kurz: wo alles noch möglich erscheint, wusste ich noch nicht, ob es etwas Festes wird, aber mittlerweile bin ich mir sicher, dass er mein aktuelles Lebensabschnittslied Nummer 1 werden könnte.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir noch keine Zeit für unseren ersten handfesten Streit hatten. Natürlich kann es aber auch daran liegen, dass man sich in Boy selbst verlieben muss: In die feenhafte und dennoch lebenskluge Stimme von Valeska Steiner und die traumschönen musikalischen Gründe, die Sonja Glass ihr bereitet. Nicht zuletzt macht es Spaß, die ätherische Steiner und die bodenständigere Glass anzusehen. Dabei kann das Duo aus Zürich und Hamburg mehr als großäugig in die Kamera gucken: Schönen Singersongwritergitarrenpop machen, zum Beispiel.

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Kein Wunder, dass sich Grönland, das Label von Susanne Sundfør, William Fitzsimmons und Philipp Poisel, für die beiden Musikerinnen interessiert und am 2. September 2011 ihr Debütalbum Mutual Friends herausgebracht hat, und zwar nicht nur in CD- beziehungsweise Limited-CD-Form und als digitalen Download, sondern auch gleich in der Vinyl-Version – eine Ehre, die heutzutage leider nicht mehr allzu vielen Künstlern zuteil wird, hier aber definitiv die Richtigen getroffen hat.

Mutual Friends ist eher Initiationsroman als Pop-Album. Hier geht es um Aufbruch und Neuanfang, um Irrungen und Wirrungen, um schließlich anzukommen, ob im (neuen) Zuhause oder im eigenen Leben. Eine Platte, die das Lebensgefühl vieler Mitt- bzw. Endzwanziger trifft – und ganz allgemein das von all jenen, die sich aufmachen, ein neues Abenteuer zu beginnen. Gleich der Opener This Is The Beginning beschreibt, wie man sich neues Terrain zu eigen macht, bis die neuen Straßen schon bald „full with friends and memories“ sein werden. Und genau dieser optimistische Ton soll sich durch das ganze Album ziehen: Egal, wie wehmütig einem aufgrund eines Abschiedes auch ist, die Neugier überwiegt – und nicht zuletzt die Gewissheit, dass zum Schluss eben alles gut wird und sich Fremdes in Vertrautes und freundlich Gesinntes wandeln wird. Wohl nicht umsonst heißt es im zweiten Song Waitress „her time is yet to come“ – ein Unterwegssein im felsenfesten Glauben, dass sich alles finden wird. Und auch bei dem wunderschönen Drive Darling überwiegt die freudige Erwartung – Good morning, freedom! – die Angst davor, die bisherige Geborgenheit zu verlieren – Good night, lullabies. Wer will, kann diese Herangehensweise unbeschwert nennen. Man könnte sie aber auch als erfrischend lieb gewinnen. Schließlich ist es gar nicht so einfach, durchweg positive Songs zu schreiben, ohne in die oberflächliche Happy-go-Lucky- oder gar in die Kitsch-Schublade zu greifen.

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Im Prinzip haben Boy mit Mutual Friends ihr eigenes Road Movie vertont, das dann aber eher Frühlingserwachen als Kerouac ist. Schließlich greift Texterin Valeska Steiner die Geschichten auf, die ihr das eigene Leben liefert – und das war nun einmal ihr Umzug von Zürich nach Hamburg, als die Platte entstand. Aufbruch, Veränderung, Unterwegssein – das ist die Überschrift, unter der sie die Platte selbst zusammenfassen würden, verraten sie im Interview. Daneben kommen aber auch andere Themen nicht zu kurz. So haben Boy beispielsweise in der ersten Singleauskopplung Little Numbers das alte Sujet des Neben-dem-Telefon-Wartens ganz ohne selbstmitleidiges Gejammer gelöst, denn der Tenor ist in diesem Song eher von einer gesunden Selbstironie geprägt und besingt obendrein charmant aber deutlich, was ER verpasst, wenn er SIE nicht anruft – schließlich könnten diese sieben kleinen Zahlen, aus denen sich IHRE Telefonnummer zusammensetzt, als SEINE ganz persönlichen Glückszahlen entpuppen … Auch musikalisch wird hier nicht groß geklagt. Im Gegenteil – Little Numbers ist eine der fröhlichsten und energiegeladensten Nummern des ganzen Albums, fast schon ein lupenreiner Pop-Song, umwerfend positiv und flirrend bunt wie die Lampions eines Sommerfestes, wo This Is The Beginning noch höchst verträumt daherkommt und Waitress eher in die Singer/Songwriter-Richtung weist.

Wer bislang nur die Single gehört hat, könnte schnell auf die falsche Fährte kommen: Zwar ist der Grundton des ganzen Albums prinzipiell leicht und verspielt, doch lotet Mutual Friends gemeinhin noch weitaus tiefere Gefilde aus als die ewig-weibliche Frage nach dem Zeitpunkt(s) eines Anrufes. Bezeichnend dafür ist sicherlich in erster Linie Drive Darling, wobei sich dessen ganzer Zauber allerdings erst bei einem der vielen Unplugged-Auftritte von Boy als Gitarrenduo offenbart, beispielsweise bei der TV-Noir-Session oder den Münchner Hauskonzerten. Sollte es Drive Darling eines Tages als Single geben, würde ich mir die im Vergleich zur Album-Version etwas langsamere Unplugged-Version als B-Seite wünschen! Denn prinzipiell kommen alle Boy-Nummern in einem doppelten Gewand daher: In der voll besetzten Band-Version des Albums und noch einmal als Akustik-Version, mit der Boy lange getourt sind. Und um von einem vollinstrumentierten und durchproduzierten Stück ein brauchbares Akustikarrangement zu machen, bedarf es zunächst eines wirklich guten Songs. Boy haben gleich zwölf davon.

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Auch die auf Drive Darling folgende Nummer Railway offenbart Boys große Stärke für das Träumerische, die Andeutung, die Erwartung – eine Art erwachsenes Träumen, falls es so etwas gibt, nicht mehr komplett illusionistisch, aber weit entfernt von hoffnungslos. Boy haben sich einen Lebensabschnitt herausgepickt, wo erster Schmerz schon erlebt wurde, an ein Aufgeben aber (noch) längst nicht zu denken ist. Hier hat sich eben kein abgeklärter Textdichter mitsamt seinem versoffenen Komponistenkompagnon hingestellt und hübschen jungen Mädchen Lieder auf den Leib geschrieben – das können Boy selbst, und zwar besser. Vielleicht auch deshalb erinnern mich ihre Lieder an das Storytelling Pianoplaying Fräulein Alev Lenz, das ja auch seine eigenen Geschichten erzählt. Gäbe es nicht noch die zweite Hälfte von Mutual Friends, könnte diese Rezension an dieser Stelle mit dem Satz beschlossen werden, dass ich so eine ausgesprochen sanfte Platte das letzte Mal 1999 mit Gabrielles Rise gehört habe. Dann aber kommt Track 8 und damit mein absolutes Lieblingslied der Platte. Mit Boris nämlich haben sich Boy endgültig von aller Mädchenhaftigkeit verabschiedet und erinnern eher an Helicopter Girl oder andere wunderbare Adult Contemporary Artists. Ein bisschen Defiant and Proud von Justine Electra ist dabei, ein bisschen Lisa Marie Presley und Pauline Taylor auch, dabei aber immer noch ganz viel Boy, geschuldet vor allem der unverwechselbaren Stimme Valeska Steiners, die einen, einmal gehört, nicht mehr los lässt.

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Oh Boy überrascht als Disco-Rock’n’Roll-Stampfer, während Boy bei Skin beweisen, dass sie auch handfest rocken können. Schauen hier nicht gar die Guano Apes um die Ecke? Auch Silver Streets wird von E-gitarrengestütztem Up-Tempo-Rock’n’Roll dominiert, doch dann schließen Boy mit dem sanften Schlaflied July das Album ebenso leise und versöhnlich ab, wie sie es begonnen haben. Hier schließt sich der Kreis, der Held ist nach Hause gekommen. In einer Zeit zunehmender akustischer Vermüllung braucht die Welt solch leisen Platten wie die von Boy, auf denen zwischendurch dennoch eine Menge passiert. Macht das Mutual Friends gleich zu einer einfachen Platte? Einfach ja, aber nicht simpel. Allein der musikalische Background der beiden Boy-Protagonistinnen zeugt davon, dass Reduktion auf das Wesentliche hier nicht einem Mangel an Können entspringt, sondern einer tiefen Musikalität. Denn so, wie ein Text nicht erst dann vollkommen ist, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern dann, wenn man nichts mehr weglassen kann, ist auch Mutual Friends in seiner gewollten Reduziertheit einfach eine perfekte Pop-Platte.

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