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Agnes Obel – Philharmonics

Oktober 2010 / Victoriah Szirmai

Wer die ersten Takte von Just So hört, denkt: Ah, alles klar, der Song aus der Telekom-Werbung. Das ist zwar richtig, aber irgendwie auch schade. Natürlich stimmt es, dass der Song seit dem Frühjahr 2009 in den Telekom-, T-Mobile- und T-Home-Spots, wo es Rosenblätter regnet, an prominenter Stelle zu hören ist: Black turns beat me bright / Turning on the light / Today is gonna be the day / You hear some body say / We need you right away …

Als ich Just So zum ersten Mal hörte, dachte ich, es sei eine Variante von Yael Naims New Soul – genau diese Art von unbestimmt an Kinderlieder erinnernden, poppig-chilligen Ohrwurm-Melodien wird ja mithin von den Werbestrategen gerne verwendet, um kalten, technischen Produkten so etwas wie Seele einzuhauchen. Im Falle Naims war es das Apple Book Air, hier ist es der Magenta-Riese aus Bonn.

Sängerin des Liedes ist die Dänin Agnes Obel, und so, wie es so manch einer ehemaligen Werbesängerin dennoch gelang, anschließend eine Karriere als respektable Künstlerin hinzulegen, wird es auch ihr gehen. Nachdem ihre Debüt-Single quasi über Nacht ungeahnte Erfolge feierte, legte die 1980 in Kopenhagen als Agnes Caroline Thaarup Obel geborene Sängerin/Songwriterin diesen Mai mit ihrer ersten EP Riverside nach – und die hatte es in sich: Nur drei Lieder, aber was für welche!

Agnes Obel | Riverside

Bezeichnenderweise war Just So nicht enthalten; vielmehr bot die EP nebst einer Coverversion von Close Watch des britischen Artrockers John Cale mit zwei Eigenkompositionen einen Vorgeschmack auf das kommende Studioalbum.

Agnes Obel | Philharmonics

Und das ist jetzt endlich da. Philharmonics heißt es, obgleich es von Philharmonie im Sinne von groß besetzten Symphonieorchestern nicht weiter entfernt sein könnte. Denn Agnes Obel singt und spielt dazu Klavier. Mehr ist zumeist nicht zu hören. Drei der zwölf Tracks kommen gänzlich ohne Gesang aus. Ab und an verirren sich dezente Celloklänge in den Klangfluss, mal gemahnt die Begleitung in ihrem verlässlichen Ostinato an ein Spieluhrwerk, tröstend und verstörend zugleich. Das Geheimnisvolle in Obels Musik speist sich nicht aus Klangeffekten, sondern eher aus der Stille. Hier ist nichts symphonisch-romantisch übersteigert oder gar verschwurbelt; bei Obel dominiert eine Klarheit, die ihresgleichen sucht. Nichts Überflüssiges haben die Songs an sich; sie bestechen durch eine klassische Schnörkellosigkeit jenseits des Zeitgeistes. Obwohl eine eigenwillige Komponistin/Pianistin/Sängerin, wird man bei Obel das Drama einer Soap&Skin oder die Verschrobenheit einer Tori Amos vergeblich suchen.

Agnes Obel | Philharmonics

Die Songs der Agnes Obel ruhen in sich selbst; ihnen wohnt eine nahezu Bach’sche Strukturiertheit und Sakralität inne, gepaart mit einer Stimme, zu geerdet um als ätherisch beschrieben zu werden. Für ein (Beinahe-)Debüt ist Philharmonics ein erstaunlich reifes Album. Wohl nicht grundlos wählte Obel die Eule – gemeinhin Symbol der Weisheit – als Covertier. Zudem deutet sie auf den unheimlichen Aspekt in Agnes Obels musikalischem Schaffen hin: Fürchtet sich die Volksmythologie denn nicht vor dem nächtlichen Ruf des Käuzchens als Vorbote des Todes? Schließlich fand es auch als „Leichenvogel“ oder „Nachthexe“ Eingang in unsere Symbolwelt.

Und tatsächlich wird gestorben auf Philharmonics. Beispielsweise in meinem Lieblingslied (Down By The) Riverside, wobei es sich eher um ein mehrstrophiges Erzählgedicht denn einen Popsong handelt. Gleich einer Naturballade erscheint hier das Wasser – konkret: der Fluss als Metapher des ewig Gleichen und stets Verschiedenen – zunächst als engster Vertrauter der Sängerin: Go to the water so very near / the river will be your eyes and ears …

Agnes Obel

Doch schwingt bei aller vermeintlichen Verschmelzung stets eine untergründige Gefahr mit: Oh my God I see how everything is torn in the river deep / And I don’t know why I go the way / Down by the riverside. Und wieder einmal ist jemand dem unwiderstehlichen Sog des Wassers erlegen, dem verführerisch flüsternden Fluss, gegen die eigene Absicht: I walk to the borders on my own / To fall in the water just like a stone … Die Faszination am Schrecken, das unbedingt Hinschauen-, Hingehenmüssen lässt sich nicht vermeiden, sodass es vom Wasserliebhaber zur Wasserleiche nur ein hauchzarter Schritt ist – was übrigens für den gesamten musikalischen Kosmos Obels gilt: Er ist stets auf der Kippe vom Melancholischen ins Unheimliche.

Agnes Obel

Auch im Titeltrack Philharmonics hat der Protagonist eine verhängnisvolle Affäre mit den zerstörerischen Kräften des Wassers, allerdings verleiht Obel ihrem bevorzugten Sujet hier eine unerwartete Wendung: He fell down just to drown / In a sea of delight / To tame champagne / And creatures of the night / As the water took him over / Filled his lungs inside out / I sold his gold / For flowers and rice.

Der an langüberlieferte Geschichten erinnernde Erzählton wird das gesamte Album hindurch beibehalten; ob nun wie hier der Bösewicht letzten Endes umkommt, das kleine Vögelchen mit seinem Schnabel ans Fenster klopft (Brother Sparrow) oder mit Sack, Pack, Kind, Kegel, Hund und Vieh die Koffer gepackt werden (Beast) – Agnes Obel bedient sich eines reichen Schatzes an traditionellen (Sagen-)Motiven, gepaart mit der Gefühlswelt einer jungen, modernen Frau, übergossen mit einer dicken Schicht Naturmetaphorik. Mir scheint sie mehr Erzählerin denn Sängerin; und sie erzählt eher von Dingen, die zu Ende gehen als von Dingen, die neu beginnen. Genau das macht Philharmonics zur perfekten Herbstplatte.

Agnes Obel

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