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„I Got Rhythm“ im Stuttgarter Kunstmuseum

März 2016 / Victoriah Szirmai

Über das Verhältnis von Musik und bildender Kunst, von Jazz und Moderne, wurde viel geschrieben. Diese sich gegenseitig so rege befruchtende Beziehung sinnlich erlebbar zu machen, ist die 140 Exponate umfassende Sonderausstellung I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920 in Stuttgart angetreten. Schließlich ist die baden-württembergische Landeshauptstadt nicht nur für luxuriös-sportliche Automobile, eine pittoresk-beschauliche Kessellage zwischen Wald und Reben und vor allem in den letzten Jahren für Berliner Ex-Szene-Kieze gentrifizierende Wegzügler bekannt, sondern auch für ihre langjährige Liaison mit dem Jazz.

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Wieder einmal sind die Amis schuld, waren es doch die amerikanischen Soldaten – und vor allem ihr Truppensender AFN –, die nach dem Zweiten Weltkrieg die swingenden Rhythmen ins Ländle brachten. 1951 gründete Orchesterleiter Erwin Lehn das Südfunk-Tanzorchester, das sich schon bald von der Rundfunk-Kapelle zur swingenden Big Band mauserte. 1955 begründete er die Radiosendung Treffpunkt Jazz, in der er mit Größen wie Miles Davis oder Chet Baker musizierte. Bis heute zeugen zahllose Clubs, darunter die legendäre Kiste und das unkonventionellere Bix, Orchester wie die SWR Big Band und Festivals wie die Stuttgarter Jazztage oder die Jazzopen Stuttgart von der Liebe der Schwaben zu den Blue Notes.

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Inspiration für I Got Rhythm indessen war die Tatsache, dass das Kunstmuseum Stuttgart die bedeutendste Sammlung der Werke von Otto Dix beherbergt, darunter Bilder wie das Berliner Großstadttriptychon von 1927/28, „Das Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ sowie Portraits von Ehefrau Martha Dix, die nicht nur genauso gut Klavier spielen konnte wie eine Konzertpianistin, sondern ihren Gatten auch zum Tanz verführte. Eine Zeitlang, so will es die Legende, sah es sogar so aus, als solle der fanatische Schallplattensammler Dix den Pinsel an den Nagel hängen, um gemeinsam mit seiner Frau Karriere als Showtanzpaar zu machen. Was ihm aus dieser Zeit blieb, war der Spitzname Shimmy – nach seinem bevorzugten, mit Aufkommen des Jazz aus dem Foxtrott entstandenen, mit afrikanischen Elementen angereicherten Tanz, dem sich der Maler in den Lotterlokalen der Weimarer Republik hingab. Das Selbstbildnis „An die Schönheit“ von 1922 zeigt Dix, der sich stets als Dokumentarist an der Staffelei verstand, vor einer Kulisse aus Tanzpaaren und einem schwarzen Schlagzeuger als smarten Dandy mit pomadisiertem Haar im Nachtclub.

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Ausgehend von der Dix’schen Vorliebe für die mit dem Ruch des Verbotenen, später gar „Entarteten“ behaftete Musik zeigt I Got Rhythm, welche Rezeption der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende Jazz das Zwanzigste Jahrhundert hindurch in der bildenden Kunst hervorgerufen hat – schließlich gilt er ob seiner weiten Verbreitung und lebensgefühlrevolutionierenden Wirkung als erstes Pop-Phänomen: Ob Großbürgertum, Bohème oder Arbeiterjugend – der Jazz begeisterte durch alle Schichten. Nicht zuletzt wurde er als erste eigenständige Kulturleistung der USA wahrgenommen und sollte dort den Beginn afroamerikanischer kultureller Emanzipation markieren. Die neue Musik brachte neue Tänze, die bald auch nach Europa kamen. Die zur Bildmarke von I Got Rhythm erkorene Charleston-Tänzerin Josephine Baker avancierte schnell zur Ikone der Moderne. Ihre für damalige Verhältnisse überaus gewagten, nicht selten mit Auftrittsverbot belegten Revuen inspirierten Dichter, Fotografen und Maler.

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Auf drei Etagen wird dem Besucher chronologisch von der klassischen Moderne über Werke europäischer und amerikanischer Nachkriegsabstraktion bis hin zu Installationen und Videos der Gegenwart ganz en passant ein musikgeschichtlicher Überblick vermittelt. Der Rundgang beginnt mit Franz Klines Ölgemälde „Hot Jazz“ von 1940, das als eines der ersten Bilder des abstrakten Expressionisten gilt, das seine ureigene Handschrift zeigt. Ausgehend von dem Amerikaner eröffnet sich dem Besucher in der ersten Etage die europäische Moderne von Max Beckmann bis Henri Matisse, um in der zweiten nach Amerika mitsamt seinen derzeit dort herrschenden Rassenunruhen zurückzukehren. Ein Ausflug in die Fünfziger- und Sechzigerjahre zeigt den Jazz als Synonym für eine kritische Haltung der Intellektuellen, verkörperten Bebop und Abstraktion doch das westliche Freiheitsparadigma. So etwa hörte Jackson Pollock in seinem Atelier nächtelang ausschließlich Jazz, während auf der anderen Seite des Atlantik K.R.H. Sonderborg malerische Aktionen gemeinsam mit Jazzmusikern veranstaltete. Schließlich gestalteten zeitgenössische Künstler die Cover von Jazzplatten, umgekehrt dienten Musikaufnahmen als Inspiration für Kunstwerke, wie etwa Coltranes „Naima“ Bruce Naumans Bodenplastik „John Coltrane Piece“ von 1968 inspiriert hat. In der dritten Etage trifft man auf Zeitgenossen wie den afroamerikanischen Maler Ernie Barnes, dessen Acrylbilder unzählige Plattencover zieren, die man selbst im Regal hat, wie etwa Marvin Gayes „I Want You“, und lernt, dass Josephine Baker auch für bildende Künstler von heute, wie etwa Marlene Dumas, immer noch ein relevanter Referenzpunkt ist.

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Der Clou der Ausstellung indessen sind Smartphone-ähnliche Audioguides, mit denen sich an ausgewiesenen Hörstationen neben den Kunstwerken platzierte Codes scannen lassen, die einen kurzen Abriss zum Kunstwerk, zum begleitenden Musikstück und schließlich das entsprechende Musikstück selbst zu Gehör bringen. Da wird Louis Armstrongs titelgebendes „I Got Rhythm“ mit Ernie Barnes‘ Überblicks-Studie „History of Jazz“ vergesellschaftet, Billie Holidays „Strange Fruit“ mit Joe Overstreets gleichnamigen Gemälde, Thelonius Monks „Straight No Chaser“ mit Palermos titellosen, dem Pianisten gewidmeten Dreiecksobjekten und Jean-Michel Basquiats 1986er auf Platte montierte „Jazz“-Collage mit Rammelzee vs. K-Robs „Beat Bop“. Und das waren jetzt nur vier von fünfundzwanzig Hörbeispielen, die Videoinstallationen nicht mitgezählt! Gut ist da beraten, wer der Ausstellung zwei Tage widmen kann, denn die Fülle von Informationen, die alle gehört und gesehen werden wollen, ist schier überwältigend.

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Hat man das Glück, ein ganzes Wochenende mit I Got Rhythm verbringen zu dürfen, kann man sich den Luxus gönnen, auch den Videoprojektionen die ihnen gebührende Zeit zu schenken. Zum Beispiel Stan Douglas‘ „Luanda-Kinshasa“ genannter, sechsstündiger Video-Loop von 2013, der in einem minutiösen Nachbau die legendären New Yorker Columbia-Studios wieder auferstehen lässt. Ein Dezett improvisiert in einer fiktiven Studioaufnahme über mal von Stockhausen, mal von klassischer indischer Musik inspirierte Funk-Themen, die Miles Davis nach dem Release seines 1972er-Albums „On The Corner“ hätte komponieren können. Dabei allerdings fehlt die Trompete, schlug Davis doch nach dem Flop des Albums einen anderen Weg ein. „Luanda-Kinshasa“ stellt die Frage, wohin sich der Jazz entwickelt hätte, wäre Davis, anstatt sich drogenseligen Jam Sessions hinzugeben, in Kontakt mit einer neuen Jugendkultur getreten. Hätte er etwa sein Interesse an Weltmusik vertieft und den Dialog mit Afrobeat gesucht? Trotz bzw. gerade durch die Abwesenheit der Trompete bleibt Davis in der Arbeit von Stan Douglas, die sicherlich ein Schlüsselwerk der Ausstellung ist, erschreckend präsent. Für mich persönlich das berührendste, am längsten nachwirkende Exponat.

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Neben der eigentlichen Ausstellung gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm zu entdecken, von der Führung mit Livemusik bis zum Bodypercussion-Workshop. Höhepunkt ist eindeutig das Abschlussfestival am 5. und 6. März, das in erster Linie solchen in ihrer Jugend dafür, Säle leer zu spielen, bekannten Free-Jazz-Heroen wie Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach und Rolf Kühn, die mittlerweile selbst schon längst zum überalterten Jazz-Establishment gehören, eine Bühne bietet. Die Auswahl der Künstler indessen wird hier zum einen von der Frage geleitet, ob der Musiker – wie zum Beispiel Globe Unitiy Orchestra-Gründer Peter Brötzmann, der Kunst studierte und sein Geld als Grafiker verdiente, bevor er mit seinem (Bass-)Saxophon die Free Jazz Szene aufmischte – eine Beziehung zur bildenden Kunst hat, zum anderen von jener, ob sich der betreffende Musiker mit der Geschichte des Jazz beschäftigt, wie etwa von Schlippenbach in seinem Tribut an Eric Dolphy, oder die 1978 geborene China Moses, die als Tochter von Sängerin Dee Dee Bridgewater nicht nur einen persönlichen Background in der Jazzgeschichte hat, sondern sich in ihrer eigenen Musik intensiv mit der Geschichte der afroamerikanischen Musik und dort insbesondere mit den Blues-Wurzeln des Jazz auseinandersetzt.

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Was kantenlos-wohlfühlig beginnt, endet in einem zwar immer noch eingängigen, dafür aber umso temperamentvolleren Gospelbluesfunkgottesdienst, der dank des Saxophonisten auch vor einigen versprengten Free-Jazz-Tupfern nicht zurückscheut, vor allem aber unter Beweis stellt, dass China Moses ob ihrer gigantischen Röhre, ihrer nicht minder gigantischen Emotionalität und eines unglaublichen komödiantischen Talents mehr ist als nur „die Tochter von“. Üblicherweise bin ich kein großer Fan davon, wenn Künstler erst einmal eine Viertelstunde reden, bevor der eigentliche Song beginnt, doch eingebettet in einen geschichtsträchtigen Tribut an Sängerinnen wie Dionne Warwick & Co. fühlt sich Moses‘ wortgewaltige Moderation durch ihr Programm richtig und wichtig an. Wer Restkarten ergattern konnte, wurde Zeuge eines rauschenden Abends.

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Ohnehin der Andrang! Zeitweise musste das Museum seine Pforten schließen, da aus Brandschutzgründen nicht so viele Besucher Einlass fanden wie begehrten. I Got Rhythm geht mit etwa 110.000 Besuchern als die erfolgreichste Sonderausstellung in die Geschichte des Museums ein. Das besticht nicht zuletzt durch seinen strengen Glaskubusbau, der 2005 von den Berliner Architekten Rainer Hascher und Sebastian Jehle fertiggestellt wurde und allein die weite Anreise lohnt. Beispielsweise zur kommenden Sonderausstellung Ponderosa (9. April bis 28. August 2016) mit Werken von Candice Breitz. Bis März schon war die in Berlin lebende Südafrikanerin mit ihrer raumgreifenden Videoinstallation „King (A Portrait of Michael Jackson)“ im Kunstmuseum Stuttgart vertreten, für die sie sechzehn Jackson-Fans das Erfolgsalbum Thriller von der ersten bis zur letzten Note in Echtzeit nachsingen ließ und die Einzelaufnahmen kaleidoskopartig auf nebeneinandergereihten Bildschirmen montierte. Ponderosa wird einen in Deutschland erstmalig zu sehenden retrospektiven Überblick über Breitz‘ Werk bieten, das thematisch um den Menschen, der im Zeitalter populärer Massenkultur um seine individuelle Positionierung ringt, kreist. Aus der vierteiligen Werkgruppe, zu der „King“ gehört, werden jetzt „Legend (A Portrait of Bob Marley)“ und „Working Class Hero (A Portrait of John Lennon)“ gezeigt, und damit einmal mehr die Wirkung populärer Musik auf die bildende Kunst.

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