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Arca – Mutant und Anna von Hausswolff – The Miraculous

Dezember 2015 / Thomas Winkler

Früher gab es Komponisten. Die erschufen Klangwelten in ihrem Hirn, notierten sie notdürftig auf Papier und konnten sie schließlich, wenn sie Glück oder doch wenigstens einen potenten Mäzen hatten, von einem Orchester aufführen lassen. Ein langer, verschlungener Weg, auf dem notgedrungen allerhand verloren gehen konnte von der ursprünglichen Vision. Der Komponist unserer Tage hat es da einfacher. Jedenfalls, wenn er sich nicht Komponist nennt und keinen Wert legt auf einen traditionellen, vielköpfigen Klangkörper im Smoking, sondern bloß Produzent und aktuelles technisches Equipment sein Eigen nennt.

Arca | Mutant Cover

Die Digitalisierung ist schuld, dass die wahren musikalischen Visionäre nicht mehr am Klavier klimpernd nach neuen Klangwelten suchen, sondern Bits und Bytes hin und her schieben, bis Neues entsteht. In diesem Geschäft hält sich Ruhm allerdings nicht allzu lange. Wer gestern noch angesagt war, ist heute schon Mainstream und kann morgen vergessen sein.

Wenn gerade in diesem Moment jemand angesagt ist, dann ist es Alejandro Ghersi. Der stammt aus Venezuela, ist süße 25 Jahre alt, nennt sich als Musiker Arca, hat sich als schwul geoutet und in seinen jungen Jahren schon entscheidend das Sounddesign von Alben solcher Popgrößen wie Kanye West und FKA Twigs gestaltet. Zuletzt hat ihn die große Björk verpflichtet. Ja, der Mann ist wirklich angesagt.

Diese Arbeitsnachweise führen allerdings in die Irre, wenn man sich mit Arcas eigenen Werken beschäftigt. Sein im vergangenen Jahr erschienenes Debüt „Xen“ und auch der nun veröffentlichte Nachfolger „Mutant“ laufen niemals Gefahr, einmal in einem gewöhnlichen Radio-Sender zu laufen oder sich oben in den Charts zu platzieren. Denn dorthin gelangt nur, wer Gewohnheiten bedient und Wiedererkennungswerte bietet. Arca aber ist kaum einzuordnen, verwegen und radikal eigenständig.

Arca | Mutant self

Dass Arca in seiner Kindheit Klavierunterricht genossen hat, das jedenfalls ist nicht zu hören auf „Mutant“. Stattdessen beginnt das Album mit dem Track „Alive“, mit stotternden Klängen, zerhackten Impressionen, die einen an der Funktionstüchtigkeit des eigenen CD-Players zweifeln lassen. Doch langsam schält sich aus der Irritation eine Stimmung, sphärische Klänge, Ahnungen von Melodien, bevor ein Klangraum einstürzt und aus den Ruinen plötzlich doch Harmonien aufsteigen.

So geht es fröhlich weiter. Klänge, die sich nicht zuordnen lassen. Klappern und Klackern. Die Stille, die zu schreien beginnt. Störgeräusche aus dem tiefsten Inneren von Maschinen. Schaltkreise, die weinen. Schatten von Folklore aus fernen Ländern, die wie ein Nebel herabfallen. Verblasste Ideen aus vergangenen Zeiten. Wenn man versucht, Arcas Musik zu beschreiben, ist es schwer, auf die üblichen Referenzen aus der Popgeschichte zurück zu greifen oder gar Genre-Einordnungen zu bemühen. Arca scheut nicht nur überschaubare Rhythmen und klassische Songstrukturen, sondern auch konnotierte Sounds. Jeder einzelne Klang, scheint es, ist einzeln entworfen, sorgsam modelliert im Computer, auf dass er klinge wie kein Klang vor ihm.

Vollständig ist so ein Anspruch natürlich nicht einzuhalten, zu viel ist passiert in der Musikhistorie. Natürlich stehen die Klangwelten, die Arca erschafft, in einer Tradition anderer großer Irrer und elektronischer Erneuerer wie Aphex Twin. Doch wo sich ein Aphex Twin noch mit den Konventionen des Dancefloors auseinander setzen und der Funktionalität des Techno als Körperbewegungsinstrument zumindest eine Absage erteilen musste, kann Arca solche Überlegungen einfach links liegen lassen. Er setzt um, was da klingt in seinem Kopf. Und da findet einiges statt: exotische Klangwelten von irritierender Schönheit, mit Ecken und Kanten. Kein einfaches Hörerlebnis, aber ein erhellendes, tatsächlich Horizonte erweiterndes.

Anna von Hausswolff | The Miraculous Cover

Nun muss man auch heutzutage nicht unbedingt einen Computer benutzen, um außergewöhnliche Ideen umzusetzen. Zur Not tun es auch 9000 Pfeifen, 91 Register, 35 Transmissionen und 68 Extensionen, Glockenspiel, Vibraphon, Celesta, verschiedene Rhythmusfunktionen und ein zusätzlicher Satz Pfeifen, der in einem Wasserbad steht und zwitschernde Vögel imitiert.

Das alles bietet die Orgel im Konzerthaus Acusticum im nordschwedischen Urlaubsort Piteå. Sie ist eine der größten Europas und wahrlich ein Gerät, mit dem man nicht bloß Musik machen, sondern tatsächlich Klangwelten erschaffen kann. Gebaut hat das Instrument der Deutsche Gerard Woehl, einer der renommiertesten Orgelbauer der Welt. Fertiggestellt wurde die Piteå-Orgel 2013, aber nun verankert sie Anna von Hausswolff in der Popgeschichte.

Anna von Hausswolff | The Miraculous 5

Die 29-jährige schwedische Organistin hat ihr neues, drittes Album „The Miraculous“ zusammen mit ihrer Band in einer Woche in Piteå eingespielt. Die Basis legt natürlich die gewaltige Orgel, damit sind dann auch einige Assoziationen schnell bei der Hand. Irgendwie erinnert so eine Orgel immer ein wenig an Kirchenmusik, aber von Hausswolff umgeht geschickt alle Klischees, vermeidet jedes barocke Ornament und verzichtet auf Mönchsgesänge.

Stattdessen reizt sie die möglichen Kontraste nahezu schmerzhaft aus. Mal rockt es, als stammten sie und ihre Band aus den seligen Siebzigerjahren und hätten zu viele bunte Pillen eingeworfen. Psychedelische Läufe, ein Rhythmus als Sog. Dann wieder fast Stille, ein weihevolles Schweben, majestätische, selbstzufriedene Orgelflächen, die nirgendwo hinwollen, bloß sind, einfach da.

Anna von Hausswolff | The Miraculous 1

Als Tochter des durchaus berüchtigten Klangkünstlers Carl Michael von Hausswolff kennt sie sich aus mit avantgardistischen, um nicht zu sagen unhörbaren Musikentwürfen. So eigen der ihre ist, so sperrig und kontrastreich auch, ist „The Miraculous“ doch weit entfernt von den Zumutungen der Avantgarde. Sie schöpft unüberhörbar aus dem reichen Fundus, aber ihre Einflüsse reichen eben vom tiefergelegten Schwermetall von Black Sabbath bis leichtfüßigen Schlichtheit Arvo Pärt, vom prätentiösen Art-Rock von King Crimson bis zum den hippieseligen Folk-Experimenten von CocoRosie, von den böse dräuenden Rückkopplungsorgien einer Band wie SunnO))) bis zur spielerischen Düsternis einer Kate Bush.

Was all diese Einflüsse zusammenhält, das ist die Stimmung, die von grau bis schwarz jede Schattierung von Melancholie bis Depression mit großer Lust ausmalt. Ob von Hausswolff singend vom „Stranger“ erzählt, ob sie Kathedralen aus Orgelklängen baut, ob sie sich verliert in wüsten Weiten oder knorrige Rock-Riffs dick in Watte packt: Wirklich gute Laune hat sie dabei nie.

Anna von Hausswolff | The Miraculous 2

Musiker sind zwar auch nur Menschen. Aber man sollte wohl trotzdem keine direkten Rückschlüsse von „The Miraculous“ auf die psychische Verfassung von Anna von Hausswolff ziehen. Das gilt natürlich auch für Alejandro Ghersi: So disparat und wunderlich es in seiner Musik zugeht, so sieht es hoffentlich nicht in seinem Kopf aus. Sonst müsste man Angst haben, dass die beiden nicht stabil genug sind, demnächst weitere waghalsige Klangwelten zu kreieren.

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