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Harcsa & Gyémánt – Lifelover Júlia Karosi – Hidden Roots

April 2015 / Victoriah Szirmai

Glück hat, wer in Berlin lebt! Dort tritt an jedem ersten Donnerstagabend im Monat die ungarische Jazzsängerin Veronika Harcsa auf, wobei sie wechselnde musikalische Partner präsentiert, von Pianist David Helbock über Vibraphonist David Friedman bis hin zu Gitarrist Bálint Gyémánt. Mit Letzterem hat Harcsa die famose, vor so ziemlich genau einem Jahr bei Traumton erschienene Platte Lifelover aufgenommen – und die hat in den letzten zwölf Monaten nichts von ihrer Frische eingebüßt!

Harcsa & Gyémánt Cover

Gleich der titelgebende Opener zeugt von der Ska-Vergangenheit der Sängerin, lebt er doch – wie auch das restliche Album – vor allem von seiner außergewöhnlich pointierten Rhythmik. Auch Gyémánt – zu Deutsch: Diamant – nutzt seine Gitarre hier eher als Rhythmusinstrument und spielt auf ihr im Grunde Bass, ganz so, wie David Sick bei Mara & David, nur dass die Musik von Harcsa & Gyémánt weitaus komplexer ist und obendrein auf Bodypercussions setzt, während sie sich ihrem furiosen Finale entgegenschraubt. Mit „Moss and Lichen“ folgt eine Ballade mit schrägen Jimi-Tenor-Chören, über denen die durchlässige, hauchreiche, dabei aber immer bestechend prägnante Stimme Harcsas schwebt, während sich Gyémánt auf „Stop Haunting“ durch die verminderten Akkorde spielt, als gäbe es kein Morgen. Wer will, kann hier eine Reminiszenz an die Urschicht des ungarischen Volksliedes heraushören – oder aber sich ganz einfach und völlig konnotationslos an dem Stück, das sich ob seiner sperrigen Schönheit herkömmlichen Songstrukturen verweigert, erfreuen. Das wieder sehr rhythmusbetonte „Go On Swimming“ setzt die Stimme als perkussives Element ein, mehrere Vokalspuren – Gesangsspuren wäre hier der falsche Ausdruck! – verflechten sich, umranken sich, umtanzen und umwerben sich. Spätestens hier steht fest: Schon lange war ich nicht mehr so begeistert von einem Album wie von Lifelover, das seinen Titel völlig zu Recht trägt.

Harcsa & Gyémánt 5

In der nur gut zweiminütigen „Interlude“ möchte man abermals vermeinen, uralte Schichten der Menschenmusik, wenn nicht gar des Weltenklanges, mitschwingen zu hören. Auf „Huddle Yourself Up“, das noch am ehesten Popsongcharakter im Sinne von Cassandra Wilsons „I Can’t Stand The Rain“-Interpretation aufweist, demonstriert Veronika Harcsa dann, dass sie auch die tiefen Lagen ihrer Stimme souverän im Griff hat. Apropos Cassandra Wilson: Der Blues-basierte, fingerschnippende Mitwipper „Perilous“ besticht durch einen So-klänge-die-Wilson-als-Sopran-Effekt, der von der hier nur als Southern zu bezeichnenden Gitarre noch verstärkt wird, während das irgendwo zwischen Kirchtonart und Orientalistik mäandernde „Lacs“ einen deutlichen Hinweis darauf liefert, dass Lifelover weitaus anspruchsvoller, ja: fordernder ist, als man sich zunächst eingestehen mag. Und: Selten eine Sängerin mit solch einem Rhythmusgefühl gehört! Wie sie da auf „Glisten“, einer Ballade mit recht ungewöhnlicher Harmonik, federleicht durch die unsanglichen Intervalle floatet! „Saying No“ entführt wieder in bluesigere Gefilde; „Redbone“ kommt mir da gleich in den Sinn oder auch der „Industrial Blues“, während Harcsas percussive Vocals eine nahezu Bobbymcferrin’sche Vokalakrobatik betreiben.

Harcsa & Gyémánt 6

Im Gegensatz dazu kommt „Drive Into The Sun“ fast schon konventionell rüber, sehr zahm, ganz unaufgeregt und an dieser Stelle der Platte fast schon zu harmonisch, aber doch sehr sehr schön. Zum Schluss gewährt das The-Korgis-Cover „Everybody’s Gotta Learn Sometime“ einen klanggewordenen Einblick in Veronika Harcsas Wohnzimmer, und während sein LoFi-Intro die Atmosphäre einer alten Billie-Holiday-Scheibe heraufbeschwört, fährt die bald schon wieder das Ruder übernehmende Studioproduktion zum ersten und letzten Mal auf dieser Platte völlig unnötigerweise ein paar Streicher auf. Die haben Harcsa und Gyémánt allerdings so nötig wie einen Kropf, entfaltet sich ihre Meisterschaft doch im durch nichts getrübten Duospiel am besten. Trotzdem: Großartige, lebensbejahende, durchweg positive Energiespenderplatte!

Ganz anders geht die mittlerweile beim New Yorker Label Dot Time Records unter Vertrag stehende Júlia Karosi das magyarische Vermächtnis an. Auf der verwunschenen, quasipentatonischen Melodienwelt ihres neuen Albums Hidden Roots schart sie eine aus Piano, Bass und Schlagzeug bestehende Begleitung um sich, die man zunächst versucht ist, eher für eine Indie-Rockband denn für ein klassisches Jazztrio zu halten – ein Gedanke, der schnell wieder verworfen wird, sobald sich die Platte warmgelaufen hat.

Júlia Karosi Cover

Kommt der Gesang auf „Miraculous Deer“, wie übrigens ein Gutteil der Platte, ohne Worte aus, lässt Karosi auf „Édesanyám Rózsafája“ („Meiner Mutter Rosenstrauch“) ihre Muttersprache hören. Wer diese nicht versteht, bringt sich nicht um den Hörgenuss, denn Textverständnis setzt diese Musik nicht voraus: Karosi transportiert ihre Geschichten rein über das universale Vokabular des Jazz, der hier mehr Emotion als Attitüde ist, und nutzt ihre Stimme als Instrument, das den herkömmlichen Graben zwischen Frontfrau und Band aufzuheben versteht. Die alte Volksweise singt sie melismenreich, mit kleinsten Verzierungen und vielen Schlenkern. Manch einen mag das an orientalischen Gesang erinnern – was sich übrigens nicht gänzlich von der Hand weisen lässt, ist doch die älteste Schicht ungarischer Volksmusik durch eine fünfstufige Tonreihe gekennzeichnet, die nordmittelasiatischen Quellen entspringt. Auch auf „Noah’s Ark“, das stellenweise so schleppend daherkommt, dass es die süßeste Qual ist, schwingt immer ein bisschen Nah- bzw. Fernost mit, während „Imhol Kerekedik“ mit all seinen schwarzen Wolken und nicht minder schwarzen Raben dem Hörer einmal mehr die altungarische Volksliedwelt, so fremd wie schön, eröffnet, die behutsam ins Jazzidiom überführt wird, ohne sich verkrampft um „Verjazzung“ zu bemühen.

Júlia Karosi Band

Im flehenden Gesang der zauberhaften Eigenkomposition „Hidden Roots“ klingt neben etwas Siebenbürgen eine ordentliche Portion Jazz-Jazz an, zu verdanken dem Tenorsaxophon Tobias Meinharts, das sich hier unter Karosis Mitstreiter mischt. Lieblingslied! Dagegen scheint mir die Takataka-Scat-Nummer „Floating Island“ im Gegensatz zu ihrem entspannten Namen ein bisschen viel zu wollen, was bisweilen anstrengend gerät. „Seed“, der erste englischsprachige Song des Albums, erlaubt – und besteht! – den internationalen Vergleich, was nicht nur der Allverständlichkeit des Englischen geschuldet ist, sondern den Kabbalah Music-artigen Klanglandschaften, über denen sich Meinhart Lunge und Seele aus dem Leib, wenn nicht gar um sein Leben, spielt. Noch ein Lieblingslied! „Race Against Time“, eine zärtliche Textlose, beginnt wiegenliedartig, entwickelt sich dann aber zur ausgewachsenen Acid-Jazz-Party, die schon mal den Eindruck erwecken kann, es mit dem Soloalbum eines Saxophonisten zu tun zu haben, so viel Platz räumt Karosi ihren Begleitern zum Solieren ein.

Júlia Karosi Portrait

Erstmals ist hier auch der Bass solo und damit so richtig zu hören – ein Highlight! Das siebenbürgisch-jüdische Traditional „Szól A Kakas Már“, das es mir schon vor Jahren dank der Volksliedforscherin und -sängerin Márta Sebestyén und ihrer Kombo Muzsikás angetan hat, erfreut auch in der Interpretation Júlia Karosis, die hier einmal mehr das hohe Maß an Behutsamkeit, mit der sie die „verborgenen Wurzeln“ ihres altungarischen Erbes behandelt, unter Beweis stellt. Ein drittes Lieblingslied! Mit „Sinus Motion“ und „Hymn To Love“ schließt die Platte mit zwei bestrickenden Midtempo-Nummern, erstere von etwas optimistischerem Tonfluss, letztere mehr weh als mütig, mehr sehn als süchtig, immer aber wunder-wunder-schön.

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