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Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko

Inhaltsverzeichnis

  1. 1 Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko

Victoriah Szirmai / Dezember 2013

Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko. Die Lieblingslieder der deutschen Taxifahrer

Paul Simon | Over The Bridge Of Time

Paul Simon | Over The Bridge Of Time Cover

Habe ich schon die letzte Kolumne mit einem Geständnis begonnen, soll auch diese Ausgabe von Victoriah’s Music mit einem selbigen eröffnet werden. Also, ich verrate Ihnen jetzt eines meiner dunkelsten Geheimnisse, wenn Sie versprechen, es nicht weiterzusagen. Nämlich: Ich bin ein verkappter Simon & Garfunkel-Fan. Ja, privat tönt „Please Mrs Robinson“ aus meinen Boxen, lässt mich der „59th Street Bridge Song (Feelin‘ groovy)“ durch den Tag hüpfen, wiegen mich die „Sounds of Silence“ in den Schlaf. Ich mag diesen engelshaften, terzseeligen Harmoniegesang, der mir in dunkelster Novembertristesse einzigster Seelenbalsam ist. Das müssen Sie jetzt nicht nachvollziehen können. Nur mit mir durch die nächste Platte durch, das müssen Sie.

Paul Simon 1.1

Von den drei vorgenannten Stücken haben es zwar nur die „Sounds of Silence“ auf die Paul Simon Retrospective (1964 – 2011), so der Untertitel von Over The Bridge Of Time, geschafft, dafür aber sind hier erstmals die legendären, ursprünglich für Columbia Records aufgenommenen Simon & Garfunkel-Klassiker mit den Höhepunkten aus Paul Simons Solowerk auf einem Album vereint. Klar, dass dabei der eine oder andere Lieblingssong herausfallen muss, wenn man sich auf zwanzig Stücke beschränken will, auf die Highlights der Highlights, sozusagen. Dabei geht es hier gar nicht um eine bloße Best-of-Werkschau. Vielmehr erlaubt das Konzept der Gegenüberstellung der Simon & Garfunkel-Stücke mit dem Solowerk Paul Simons dem Hörer, die Entwicklung des umtriebigen Songwriters minuziös zu nachzuvollziehen.

Und bei einem beinahe ein halbes Saeculum umspannwenden Repertoire bin ich mir fast sicher, dass Over The Bridge Of Time das eine oder andere Stück enthält, dass auch Ihnen gefallen wird. Wenn das bei Ihnen nicht die frühe Simon & Garfunkel-Phase ist, dann vielleicht etwas von den Reggae-inspirierten Sachen wie „Mother and Child Reunion“ (1972)? Etwas aus der afro-lastigen Graceland-Periode von 1986? Oder gar „That’s Where I Belong“ (2000) von Simons zehntem Studioalbum You’re The One, welchem nach einer langen Durststrecke in den Neunzigern wieder ein derart überraschender, kommerzieller Erfolg beschieden war, dass es eine Grammy-Nominierung als Album des Jahres erhielt?

Paul Simon 1.2

Ich persönlich liebe das funky „50 Ways to Leave Your Lover“ des genialischen Melodikers, das ich neben Dusty Springfields „Son of A Preacher Man“ für das wirkungsvollste Mittel gegen schlechte Laune, das die musikalische Hausapotheke so zu bieten hat, halte. Wie nahezu allen Paul-Simon-Stücken ist auch diesem diese ganz spezielle lyrische Leichtigkeit zu eigen, die einen auch jenseits jeglichen popmusikhistorischen Interesses dazu bringt, sich einfach zurückzulehnen, erinnern zu lassen und zu genießen. Feelin‘ groovy, eben.

Martin Gallop | Most Beautiful Song

Martin Gallop | Most Beautiful Song Cover

Ach ja, der Herbst und die Depressionen. Wer das Kontrastprogramm zur Simon’schen Grooviness sucht, ist seinem Ziel mit Martin Gallops aktuellem Werk ein ganzes Stück näher gekommen, denn schließlich vereint es „Lieder für die Verlassenen und die, die es gerne wären“, wie er lakonisch konstatiert. Noch dazu legt Gallop mit spärlichen Gitarrenklängen und seiner weisen, leicht rauen Stimme, bei der man automatisch an gelebtes Leben, Zigaretten und Whiskey denkt, einen derart getragenen Einstieg hin, dass man glatt geneigt ist, Most Beautiful Song in die Riege des melancholischen Spätwerks großer amerikanischen Singer/Songwriter einzureihen. Die American Recordings von Johnny Cash etwa wären ein angemessener Referenzrahmen.

Martin Gallop | Most Beautiful Song 2.1

Der 1983 der Liebe wegen nach Deutschlang gekommene Kanadier will davon indessen nichts wissen: „Just a guy“ sei er, der im Weinberg der Musik ackere und sich zwar viel Mühe gäbe, aber Vergleiche wie diese … nein, wirklich nicht. Die ideale Rezension sieht für den Musiker eher wie folgt aus: „Martin Gallop hat ein tolles Album gemacht. Alles, was es darüber zu wissen gibt, steckt in den Songs.“ Es schadet aber auch nicht zu wissen, dass das neue Album von Martin Gallop, der sich vor seiner Solokarriere bei Künstlern wie Udo Lindenberg, Till Brönner oder Annett Louisan als Schreiber, Produzent und Sessionmusiker verdingte, voller Americana steckt, bluesig, folkig und archaisch intim: eine einsame Akustikgitarre, der vereinzelt eine Blues Harp Gesellschaft leistet, um dann wieder mit Klavier, Schlagzeug und Bass vollbesetzt durchzustarten, garniert mit Nice-to-Haves wie folkloristischen Streichern, Akkordeon oder auch mal Glockenspiel. Nicht zuletzt haben es Gallop die Effekte angetan: Holz knarrt, Vinyl knistert, denn schließlich wollte der Musiker in seinem Studio an der Spree das magische Flair alter Schallplatten einfangen.

Martin Gallop | Most Beautiful Song 2.3

Vor allem aber ist es diese Stimme, die in den Bann zieht und Stücke wie den entspannt groovenden, Sinatra-mäßigen Sechsachtler „Maple Leaves and Moonshine“ zum Klassiker macht, den man auch im Great American Songbook finden könnte. The „Little Blue Store“ kommt als rumpeliger Kammer-Waltz daher – eine Form, die sich auf The Most Beautiful Song sichtlich wohl fühlt, denn mit dem gar nicht mal so fern an Leonard Cohen erinnernden „Acting Like Jack“ und „Annabelle“ zeigt Gallop einmal mehr seine Vorliebe für die Dreier- respektive Sechserzählzeit. Klar, dass da der titelgebende „Most Beautiful Song“ auch ein Walzer ist! Im Walzertakt lässt sich Schmerzvolles wie der Verlust einer großen Liebe oder der selbstquälerische Prozess des Songschreibens dann eben doch eher mit einem kleinen Augenzwinkern und einem Quäntchen gesunder Distanz verarbeiten. Und ob Gallop es jetzt hören mag oder nicht: Das ist ihm mit Most Beautiful Song so gut gelungen, dass die Platte das Zeug hat, bald schon in einem Atemzug mit den Klassikern genannt zu werden.

Nils Wogram Root 70 & Strings | Riomar

Nils Wogram Root 70 & Strings | Riomar Cover

Als der Posaunist Nils Wogram am 3. November mit dem nach Albert Mangelsdorff benannten Deutschen Jazzpreis, der als renommierteste Anerkennung im deutschen Jazz gilt, ausgezeichnet wurde, rückte plötzlich auch dessen aktuelles Album Riomar in den Fokus der Aufmerksamkeit. Stört den Künstler der Wirbel um die Platte mit dem Katzencover?

Nils Wogram Root 70 & Strings | Riomar 3.1

Ganz im Gegenteil, denn Wogram, der die Platte auf seinem eigenen Label nWog Records herausgebracht hat, hält sie für „eine meiner besten CDs“, wie er im Interview verrät. Deshalb sei die Sache mit dem Preis wirklich gutes Timing – und viel Glück. In jedem Falle ist Riomar eine möglichst große Hörerschaft zu wünschen, denn hier passiert nichts, was so manch fragwürdiges Crossover-Projekt so unerträglich macht. Die Streicher ergießen sich nicht als beliebige Zuckersauce über einen fertigen Jazz-Klumpen, um das Ganze in einen unverdaulichen Brei zu verwandeln. Vielmehr hat der in Zürich lebende Braunschweiger sie bereits bei der Komposition als integralen Bestandteil der Stücke berücksichtigt. Auch habe man mit Gerdur Gunnarsdottir an der Violine, Gareth Lubbe an der Viola und Adrian Brendel am Cello drei Streicher ausgewählt, die nicht schon als Ensemble zusammengewachsen sind, sondern auf drei voneinander unabhängige Künstler gesetzt, die sich mit Wogram und seinem seit zwölf Jahren bestehenden Quartett Root 70 „ein Stück weiter auf die Jazz-Seite [begeben], als das in einem solchen Projekt normal wäre“, sprich: die Streicher spielen hier größtenteils in time mit der Rhythmussektion.

Nils Wogram Root 70 & Strings | Riomar 3.2

Wogram war es um einen dichten Bandsound zu tun und nicht um die Gegenüberstellung von klassischen und Jazzmusikern. Dies ist ihm dermaßen gelungen, dass man hier im Grunde von einem neuen Septett anstatt von Roots 70 mit Streichern sprechen sollte. Die Blaupause liefert das legendäre Charlie Parker with Strings. Würde man Riomar als dessen moderne Fortführung auffassen, Wograms Ziel wäre erreicht. Für mich persönlich entführt Riomar auf eine – internetfreie – Reise („Vacation without Internet“), mal beboppig groovend, mal nachgerade romantisch, ausgehend von Lissabon („Lisboa“). Über das bluesgetränkte Riomar („Riomar“) in Kalifornien macht es einen Zwischenstopp bei Duke Ellington („Mental isolation“), um dann eindruckserfüllt wieder zu Hause („Travelling Home“) anzukommen. Die Idee, die Platte als Soundtrack einer Reise zu begreifen, gefällt auch ihrem Macher. In der Tat habe Filmmusik einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung von Riomar gehabt. Vor allem aber macht die Platte Spaß, denn auch wenn sie die Jazztraditionen in Ehren hält, kommt sie enorm erfrischend, spiellustig, ja stellenweise anarchistisch daher und erfreut das Ohr ebenso wie den Geist und das Herz.

Mira Falk | Enchanting Land

Mira Falk | Enchanting Land Cover

Während sich Nils Wogram mit gerade einmal vierzig Lebensjahren schon zu den Etablierten des Jazz zählen kann, steckt Mira Falk noch in den Startlöchern. Ihr Quartett hat am renommierten Amsterdamer Konservatorium zusammengefunden, geeint von der Leidenschaft, unbedingt spielen zu wollen, und dafür auch sämtliche Unbilden, von schlecht bezahlten Gigs bis zu künstlerischen Krisen, in Kauf zu nehmen. Schnell wird da so manche kulturelle Barriere – immerhin setzt sich das Mira Falk Quartet aus einem Isländer, einem Engländer, einem in Australien großgewordenen Deutschen und einer in Deutschland aufgewachsenen Halb-Italienerin mit osteuropäischen Wurzeln zusammen – vollkommen irrelevant.

Mira Falk | Enchanting Land 4.1

Flankiert von ihren Musikern, entspinnt die Sängerin auf Enchanting Land die fabelhafte Welt der Mira Falk vor dem geistigen Auge des Hörers, bevor sie ihn mit glasklarer Stimme, Spielzeuginstrumentarium (Mini-Piano und Glockenspiel) und selbstvergessener Poesie verzaubert. Das mutet zum einen träumerisch leicht an, entbehrt aber auch nicht einer jedem guten Märchen innewohnenden dunklen Seite. Kein Wunder, dass das musikalische Spektrum des Mira Falk Quartets neben seinen Eigenkompositionen die Interpretation der Werke von Kurt Curbain, Tom Waits und auch Benjamin Britten umfasst.

Mira Falk | Enchanting Land 4.2

Gleich der ebenso akzentuierte wie inspirierte Opener von Enchanting Land gibt mit prägnantem Klaviersolo und beschwingter Verspieltheit irgendwo zwischen Kopfnicker-Jazz und Poprefrain-Struktur ein Versprechen auf etwas, das die ganze Platte jedoch leider nur zum – wenn auch größten – Teil einlösen kann. Es sind vor allem die Balladen, bei denen sich Mira Falks traumwandlerisch-schwebende Stimme, der auch das Deutsche auf dem Stück „Mein Herz“ ganz hervorragend steht, vollends entfaltet. So ist dann auch, dicht nach ihrer verhältnismäßig lasziven Interpretation des Klassikers „Whatever Lola Wants“, der hier als spröder Salon-Tango mit Männerchor-Koda auch noch richtiggehend Humor beweist, die auf Falks Kreuzberger Kindheit rekurrierende Eigenkomposition „My Wondrous Little House“ das absolute Highlight der Platte. Wer bis jetzt mit Falks Stimme nicht so recht warm wurde, wird es spätestens hier – und auch vom Konservatoriumsjazz, der an manchen Stellen der Platte, etwa auf „Shattered“ oder „Dream Path“, Überhand zu nehmen droht, ist hier so rein gar nichts mehr zu spüren. Zusätzlich versöhnt der Loop-reiche Abschluss „Yellow Star“ mit der ein oder anderen nicht ganz so stimmigen Nummer und schließt das Album, das nicht zuletzt mit einem herausragenden Kristján Martinsson am Klavier besticht, ebenso leichtfüßig ab, wie es begonnen hat.

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Plattenkritik: Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko

  1. 1 Paul Simon | Martin Gallop | Nils Wogram Root 70 & Strings | Mira Falk Quartet| Erika Stucky | René Marie | Julian Waterfall Pollack Trio | VA: Russendisko