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MisSiss – Sissita’s Soul Tangos

April 2011 / Victoriah Szirmai

Es ist eine Story wie im Märchen. Die österreichische Gospel/Pop/Soul-Sängerin Sissy Kudlicska, besser bekannt unter dem Künstlernamen MisSiss, wird auf MySpace vom Tango-Produzenten Ariel Gato entdeckt. Er wurde gerade für zwei Latin Grammys nominiert, sie stand mit ihrer Band Soulistics im Finale vom Ö3-Soundcheck. Ein intensiver Dialog über Musik begann. Schließlich schlägt Gato vor, für MisSiss mit ein paar der besten Musiker Argentiniens einen Song zu produzieren. Es beginnt eine Zusammenarbeit über eine Distanz von 11.000 Kilometern. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

MisSiss - Sissita´s Soul Tangoas-Cover

Ein Jahr später kommt es zu einem Zusammentreffen von Gato und Kudlicska in Spanien, und man beschließt, ein ganz eigenes Genre zu schaffen: Soul Tangos! MisSiss komponiert, textet und sing in Wien, die Tango-Elite Argentiniens, darunter Namen wie Bandoneonist Gabriel Rivano, Pianist Alejandro Devries oder Dirigent Gabriel Senanes, spielt, arrangiert, dirigiert, mixt und mastert in Buenos Aires. Diese ungewöhnliche Form der Zusammenarbeit wird im ersten Video, Nightmares, gezeigt: Zur Hälfte in Wien, zur anderen in Buenos Aires gedreht, verschmelzen hier Jahreszeiten und Kulturen, Traum und Realität.

Der Tango-Soul-Mix von MisSiss auf Sissita’s Soul Tangos ist wunderschön – aber auch schwer erträglich. Die eindringlichen Interpretationen Kudlicskas gehen unmittelbar unter die Haut, ja mehr noch: an die Substanz. Auf nüchternen Magen ist dies schwer verdaulich, weil einen diese Stimme sofort an den Emotionen packt. Im Prinzip muss man die Hörer vor Sissita’s Soul Tangos warnen. Man legt es ein, hört leichte Klavierklänge von All of You und denkt noch, ach schön, erinnert mich vielleicht ein bisschen an die Tangopianistin Cecilia Verónica Pillado, die sich ja auch einem stilistischen Crossover verschrieben hat, oder ein bisschen an Mitternachtsbarjazz, doch dann setzt sie ein: diese Stimme, die den Hörer in jede einzelne Silbe hineinzieht. Das hier ist eine Vokalperformance, von der alle Mariah Careys dieser Welt nur träumen können, verpackt in ein Arrangement, gegen das Hochglanz-Soul aussieht wie der arme Verwandte, der sich mit billigen Plastik-Klamotten zufrieden geben muss.

MisSiss - Sissita´s Soul Tangoas-2

Bevor man MisSiss gehört hat, mag man glauben, dass der auf Schönheit bedachte Soulgesang nicht zur rauen Tangowirklichkeit passt – zu sehr ist noch der „TangoHop“-Hit Dance With Me von R&B-Sängerin Debelah Morgan präsent, die den Klassiker Hernando’s Hideaway mit gefälligen R&B-Beats unterlegte und ihm jede Ecke und Kante nahm. MisSiss‘ Stimme, so präsent sie auch ist, wird nie Genre-bestimmend; sie gibt Klavier und vor allem Bandoneon den nötigen Raum, damit diese just jene musikalische Spannung aufbauen können, von der jeder gute Tango lebt. Dennoch ist die Wienerin definitiv keine Tango-Sängerin. Sie wird nie pathetisch, trotzt ihrer Stimme aber auch das letzte Quäntchen Emotion ab, dem sich der Hörer nicht entziehen kann.

Ich habe ja schon das eine oder andere Mal von Songs geschrieben, die das Potenzial haben, einen hochgradig depressiv zu machen oder gar aus dem Fenster springen lassen zu wollen – der Opener All Of You von Sissita’s Soul Tangos toppt sie alle mit Leichtigkeit. Dieser Song trifft mitten in die Magengrube, und wenn man darauf nicht vorbereitet ist, ist das erstmal ein Schock.

MisSiss - Sissita´s Soul Tangoas-3

Der zweite Song, Nightmares, ist trotz seines Meret Becker’schen Titel weitaus weniger depressiv, fast schon poppig-zärtlich-eingänglich à la Joan As Police Woman , und kommt mit seinem eindringlichen Bandoneon und nicht minder eindringlichen Industrial Drum Loops von Florian Hirschmann abstrakt, fast schon unwirklich daher. Konterkariert wird das bedrohliche Traumszenario von einer extra positiven, lebensbejahenden Melodie. So einen Albtraum kann man sich gefallen lassen!

MisSiss - Sissita´s Soul Tangoas-4

Song Nummer drei, so schrieb ein Kritiker, sei wie das Schauen der Fernseh-Show Dancing With The Stars (deutsch: Let’s Dance). Und in der Tat kann man sich dank einer großartigen Orchestration bei As I Care For You ganz dem Tanz und seinem Glamourfaktor hingeben. As I Care For You ist ein große Broadway-Ballade, Tänzer gleiten über das Parkett, Streicher zuckern, Kudlicska steigert sich in eine hochemotionale Anklage, die recht eigentlich eine Bitte, ach, was sag ich da: ein Flehen ist – und trotzdem fehlt jede Spur von Kitsch. Hochemotional bleibt es auch auf Colder; und da hat sie einen wieder am Wickel oder vielmehr in der Magengrube. Irgendwann setzen glücklicherweise behutsame Drum Loops, diesmal programmiert von Ariel Gato, ein und holen einen ein bisschen zurück ins Hier und Jetzt. Im großen Finale gerät Colder fast zur Tango-Funkrock-Nummer. Far More mit ihrem Gospelchor-Refrain gibt einem etwas Raum zum Luftholen, diese Nummer ist für mich die unspektakulärste des ganzen Albums, was ich aber nach vier extrem fordernden Songs als Erleichterung erlebe.

Aber schon Song Nummer sechs, Dancer, gemahnt in seiner Verbindung der Wehmut des Tango und der Leidenschaft des Soul an den Opener All Of You. Dies hier ist hochgradig intensive Musik. MisSiss - Sissita´s Soul Tangoas-5Wer Zurückhaltung sucht, ist mit Sissita’s Soul Tangos schlecht beraten. Dies ist kein Album, welches man im Hintergrund als Beschallung eines netten Abends laufen lassen kann. Die Soul Tangos hört man am besten allein

Das Album wird abgerundet von der nur eine Minute und achtunddreißig Sekunden kurzen Sequenz Love & Music, die im Grunde genommen nicht weniger als das Programm von Sissita’s Soul Tangos skizziert: Love and music made it possible to cross the world so easily.

Im Vordergrund aller sieben Tango-Geschichten irgendwo zwischen Tagtraum und Film Noir-Soundtrack steht aber immer die Stimme von MisSiss, die von der glasklaren Produktion und vor allem vom Mastern durch Carlos Laurenz deutlich hervorgehoben wird. Schließlich hat Laurenz ein Händchen für moderne Soul-Sängerinnen, die eine tiefe Musikalität mit schlauen Texten jenseits des Ooh Baby-Mainstreams verbinden. Alicia Keys, Mary J. Blige oder Angie Stone stehen auf seiner Credit-Liste. Und nun eben auch Sissy Kudlicska aus Wien.

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