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Various Artists / GeisterBahn

Inhaltsverzeichnis

  1. 2 Puder / Puder

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    Dieses Jahr fängt gut an: Nämlich mit der Veröffentlichung der Puder-Platte, hinter der sich die Hamburger Sängerin Catharina Boutari verbirgt. Weshalb mich das so freut? Nun, Puder hat mir gewissermaßen den letzten Sommer gerettet – und den Herbst gleich mit. Denn nicht nur das Projekt, sondern auch einer der vorab veröffentlichten Songs der Platte heißt „Puder“, und der, ja, der hatte mich gepackt, mit seinem atemlosen „und ich steh nicht und ich dreh mich, und ich tanze, ich beweg mich, meine Hände, meine Träume, meine Haut ist ihre Beute, Funken fliegen, ich erliege und die Crowd vor mir macht aah“!

    Selbst in der auf lediglich zwei im Terzabstand harmonierende Gesangsstimmen mit Gitarrenbegleitung heruntergebrochenen Version, die ich während eines Akustik-Gigs von Boutari und ihrer Pussy-Empire-Labelkollegin Chantal de Freytas zu hören bekam, versprühte „Puder“ immer noch die selbe unglaubliche Energie, die auch dem fertig produzierten Track innewohnt. Allein der Start in den als Opener des Puder-Albums dienenden Songs mit einer fetten Hammond wirkt als Initialzündung, die die ganze Platte hindurch wirkt. Puder brennt und glitzert, Puder packt zu und lässt nicht mehr los. „Let’s Pop“, sagt Puder, und der Hörer folgt willig.

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    Erst nachdem ich „Puder“ kannte, habe ich die ungeheuer erfolgreichen Frida Gold und ihren Song „Komm zu mir nach Hause“ entdeckt – die Energie, den Hedonismus und den Glamour des „discoisierten Indie-Pops“ der Hattingener hat Puder schon längst und besticht noch dazu durch die raffiniertere Produktion und nicht zuletzt die tiefgründigeren Texte, denn trotz des im Vordergrund stehenden Imperativs „Tanz!“, der schon mehr Befehl als bloße Aufforderung ist, kann Puder mehr als die urbane Hedonistin zu geben. Klar, dass nach drei Alben, einer EP und einer längeren Pause, in der Boutari ein Kind bekommen hat, auch Zeit für den einen oder anderen leisen Ton ist.

    Bestes Beispiel: Die aktuelle Single „Großstadtkonkubinen“, eine zerbrechliche Akustikballade. Boutari denkt nach über das Großstadtleben und seine Schattenseiten, über Obdachlosigkeit und Dramen an der Bordsteigkante; und als verantwortungsvolle Mutter auch darüber, welche Welt sie ihrem Kind vermachen wird. Ist „Meinen Kindern diese Welt“ oberflächlich betrachtet eine Reminiszenz an Peter Fox’ „Haus am See“, setzt sich tatsächlich aber mit Krieg und Völkermord auseinander, wobei das Schlagzeug den Groove hinter sich herschleppt, als hätte er das Gewicht von tausend Steinen. Da verwundert es kaum, dass sich Catharina Boutari eine Zeitmaschine wünscht, um die Geschichte neu zu schreiben („Straßenrand“). Und auch Dampfplauderer, die mehr versprechen, als sie halten, bekommen von Puder ihr Fett weg: „Du hast Parolen/und ich hab ‘nen Sack voll Gold!“

    Ob Sack voll Gold oder vielschichtige Fundgrube – je öfter man die Puder-Platte hört, desto mehr Facetten und Anspielungen entdeckt man, von offensichtlichen Anklängen an die Neue Deutsche Welle ganz zu schweigen. Fast lupenreinen „Trio“-Klang bietet der überdrehte Shake-It-Baby-Song „Click Clack“, genauso wie der nervöse Mein-Land-ist-abgebrannt-Refrain „Straßenrand“. Neben dem stoischen Minimalismus von Trio ist aber auch der dichte Satzgesang von Ray Charles’ Backgroundsängerinnen ein Einfluss für „Puder“, ebenso wie der Oldschool-HipHop der Achtziger. Nicht zuletzt erinnert die oftmals mit wabernder Retro-Orgel und lickenden Gitarren gespickte dichte Atmosphäre an die überschäumenden Funk-Parties von James Brown oder George Clinton, wobei Puder kein Funk ist, kein Soul und schon gar kein R&B. Puder ist Zucker, ohne Soul zu sein, Puder ist Disco, Tanzbarkeit und Groove, dabei aber immer Pop.

    Ganz en passant deckt Boutari dann noch die Formel fürs Lebensglück („Heyoh!“) auf und erdet das Ganze mit einem abschließenden Spoken-Word-Epilog. Absoluter Ohrwurm neben dem Titeltrack aber ist „Post vom Meer“, dessen Dann-kann-ich-das-Meer hören-Refrain man nicht mehr loswird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ding der Sommerhit 2012 wird. Meiner auf jeden Fall.

    Melissmell / Ecoute s'il pleut

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    Bekanntermaßen bin ich ja ein großer Fan von Ukulele-spielenden Sängerinnen/Illustratorinnen, allen voran der wunderbaren Illute. Jetzt gibt es mit Ecoute s’il pleut, dem Debütalbum der französischen Künstlerin Melissmell, neues Futter für diesen hawaiianisch-voyeuristischen Teil meiner Seele.

    Melissmell, die die zu ihren Einflüssen CocoRosie ebenso zählt wie Nirvana, Gainsbourg wie Patty Smith, Sparkelhorse wie Janis Joplin, die Sex Pistols wie Björk und Jaques Brel wie die Doors, hat ein wildes, fast gewalttätiges Post-Punk-Album im Geiste Bertrand Cantas geschaffen, dessen Rohheit und Unmittelbarkeit aber immer wieder durch zärtliche Momente unterbrochen wird. Wie schon die eklektizistische Wahl ihrer Vorbilder ist auch Ecoute s’il pleut voller Gegensätze, irgendwo zwischen lyrischer Liedpoesie und der großen Rock’n’Roll-Hymne, bei der schon mal ein komplettes Streichquartett aufgefahren wird, arrangiert von Mels-Haus-Cellist Thomas Nicol, der gemeinsam mit Stefano Bonacci an der Gitarre das Soundbett für die wütende junge Sängerin bereitet, ergänzt durch Gastspiele von Hugo Cechosz am Bass, Philippe Entressangle am Schlagzeug und Matu am Klavier. Auch M-Gitarrist Seb Martel steuert das eine oder andere Riff bei.

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    Und dann gibt es da ja noch die Ukulele, die von Melissmell auf Ecoute s'il pleut im Gegensatz zu ihren Live-Auftritten nur sehr sehr spärlich eingesetzt wird und hier fast in den üppigen Arrangements verschwindet. Überhaupt fehlen auf dem Album die Ukulelen-Nummern wie beispielsweise „Marlene“, mit denen sich Melissmell eine kleine, aber feine Fangemeinde erspielt hat, ob im Rahmen der Fête de la Musique oder in den sozialen Medien.

    Ecoute s’il pleut beginnt mit dem Ticken eines Weckers und lässt somit allerlei chansonesques Kleinkunstgeräusch erahnen, doch entwickelt sich der Opener „Aux Armes“ schon bald Richtung Le Rock denn zum ausgewachsenen Chanson. Auch das Cello-dominierte „Je me souviens“ schleicht in in bester Jaques-Brel-Manier an, entwickelt sich dann aber zu einer E-Gitarren-überlasteten Shouter-Nummer – und das ist schade, denn die leisen, akustischen Momente, wie sie am Anfang und Ende dieses Songs zu hören sind, machen für mich den Zauber der Französin aus. Überzeugen kann man sich davon auf „Viens“, das mit Klavier, Jazzbesenschlagzeug, Cello und Stimme schon fast Jazz-Quartett-Charakter hat. Der dritte Track, „Sobre Le Muerte“, hingegen macht wahnsinnig Spaß und zeigt entgegen dem verbreiteten Klischee: Doch, die Franzosen können rocken!

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    „Le Mouton“ mit seinem Reggae-artigen Rhythmus steht dem in Sachen Hörvergnügen in nichts nach, und doch ist es allenfalls der 38-Sekünder „Goûte“, der mit seinem Spieluhrcharakter noch an die Experimentierfreude der Melissmell von vor ein, zwei Jahren erinnert - doch leider soll er nur Präludium für die pathetische Rocknummer „Le Silence De L’agneau“ sein, und diese sagt ganz klar: Zu früh gefreut, denn sie vereint all jene überflüssigen Elemente, die französischer Rockmusik ihren zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Gerade, wenn man so richtig desillusioniert ist, reißt Melissmell das Ganze mit dem energetischen „Sens Ma Fatigue“ wieder heraus. Der wohl beste Track des Albums!

    Was mir noch an Melissmell gefällt: Dass sie sich nicht als singendes Hochglanzkätzchen vermarkten lässt, denn hübsch genug wäre die gelernte Illustratorin allemal. Stattdessen ziert das Cover ihres Debütalbums ganz uneitel eine (selbst-)gemalte Melissmell, die mit ihren aufgenähten Knopfaugen leicht unheimlich wirkt, irgendwo zwischen Emily the Strange und Kinderbuch, und sich durch das ganze Cover-Artwork zieht. So verleiht Melissmell ihrer Musik auch noch eine visuelle Komponente, die Ecoute s'il pleut zu einem kleinen, in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk macht.

    First Aid Kit / The Lion’s Roar

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    Im Gegensatz dazu kommt hier eine Platte, von der ich restlos begeistert bin. Ja, ich bin versucht zu sagen: The Lion’s Roar hat jetzt schon das Potenzial zur Platte des Jahres! Unbestreitbar ist der Zweitling der schwedischen Söderberg-Zwillinge –nachdem sie mit The Big Black and the Blue 2010 ein starkes Debüt hingelegt hatten – zumindest für diesen Teil des Jahres wie gemacht, denn ich kann mir keinen besseren Soundtrack zu einem verregneten Januar-Wochenende vorstellen als die Musik von First Aid Kit, der in der Tat etwas von einem Erste-Hilfe-Set an sich hat: Indie-Folk für die Seele.

    War The Big Black and the Blue noch spärlich bis intim instrumentiert, fährt The Lion’s Roar eine komplette Band auf. Benkt Söderberg, der Vater der Mädchen, ist hier am Bass zu hören, Matthias Bergquist am Schlagwerk sowie eine Handvoll Musiker aus dem Umfeld des Projektes Bright Eyes aus Omaha, Nebraska, wie Conor Oberst , Mike Mogis und Nate Walcott. Mogis zeichnet auch für die Produktion von The Lion’s Roar verantwortlich, und auch das ist neu, denn Klara und Johanna hatten bislang noch nie mit einem Produzenten gearbeitet. Infolge ist die Platte auch mehr Honkey-Tonk als Lagerfeuer, und das im besten Sinne. Nicht zuletzt macht die professionelle Produktion den Sound der Schwestern recht eingängig und leicht fassbar.

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    Geblieben ist ihr Faible für das Bittersüße. So beispielsweise ist „This Old Routine“ typische Country-Ballade, die den Verlust vergangener Glanzpunkte und die Trauer über den sich allmählich einschleichenden Alltag beschreibt und für die sich selbst Dolly Parton nicht schämen müsste. Und auch die fröhlich-brutale Version der Mörderballade „Knoxville Girl“ des Close-Harmony-Duos Louvin Brothers muss zumindest als Zitat herhalten, um zu demonstrieren, wie nahe Süßes und Saures, Freude und Schmerz, liegen. Dann wären da noch Songs wie „Emmylou“, die zwar fröhlich klingen, aber „der Text ist die traurigste Sache, die du je gehört hast“, wie Johanna Söderberg erklärt. Schließlich setzen sich die Zwillinge in dem Song – neben Gram Parsons, Johnny Cash und June Carter – mit Country-Größe Emmylou Harris auseinander, und mit der Traurigkeit, die sich trotz einer erfolgreichen Karriere durch das Leben und Werk der Künstlerin zieht.

    Neben dem Titeltrack „The Lion’s Roar“ und dem großartigen „I Found A Way“ ist mein persönlicher Favorit des Albums „Dance To Another Tune“, welches es perfekt versteht, den Appeal langer skandinavischer Winter mit traditionellen Americana zu verschmelzen – wobei dies im Grunde genommen die Kurzformel ist, auf die man First Aid Kit herunterbrechen könnte: Nord-europäische Schwermut trifft auf amerikanisch-beschwingten Country-Folk-Rock. Und das ist erst der Anfang. Ich freue mich auf alles, was von den als Fleet-Foxes-Coverband gestarteten Mädels noch kommen wird!

    Smith & Burrows / Funny Looking Angels

  2. 3 Various Artists / GeisterBahn

Diese Ausgabe unserer Musik-Kolumne enthält acht neue Platten von folgenden Künstlern: Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch

The BossHoss / Liberty of Action

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Mit Cover-Songs kennt man sich auch bei der Berliner Country-Rockband Band The BossHoss bestens aus, denn ursprünglich startete das Projekt 2005 mit dem Album „Internashville Urban Hymns“ als Country-Cover-Band. Ihre Masche? Aktuelle Hits aus den Charts „auf Country“ neu einzuspielen – ähnlich, wie es Ben L’Oncle Soul es „auf Soul“ macht. Nach einer Handvoll weiterer Alben, darunter eines, auf welchem sie gemeinsam mit dem Babelsberger Filmorchester ihre bekanntesten Nummern im klassischen Gewand neu eingespielt haben („Low Voltage“, 2101), und ungezählten Live-Auftritten war es für die urbanen Cowboys Zeit für eine Pause.

Das Ergebnis der kreativen Auszeit, die sie auch nach Texas bringen sollte, ist der Longplayer Liberty of Action, auf dem sich The BossHoss weiter eigenes Terrain erobern und dazu ihre Wandlung von der Cover- zur eigenständigen Rock’n’Roll-Band untermauern. Allein der großartige Album-Opener „Don’t Gimme That“, der zugleich erste Single-Auskopplung ist, klingt mit seinem funky Bläser-Piano-Kopfnicker-Beat mehr nach Damon Albarns Gorillaz und damit nach künstlerisch ernster zu nehmender Musik als alle ihre bisherigen Werke. Doch natürlich währen The BossHoss nicht The BossHoss, wenn die Single nicht ordentlich Rumms hätte, oder, wie die Frontmänner Alec „Boss Burns“ Völkel und Sascha „Hoss Power“ Vollmer, es ausdrücken würden, eben „voll auf die Nuss“ ginge (siehe BossHoss-Interview ). Das ganze Album sei das „arschtretendste“ ihrer modernen Outlaw-Karriere, und in der Tat muss man ihnen hier recht geben, denn Liberty of Action knallt gehörig rein – und das bei einer schier überbordenden Anzahl musikalischer Einflüsse, von Country und Rockabilly zu Punkrock über Blues und Funk zu Pop und sogar Calypso. Eine riesige Spielwiese!

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Augenzwinkernde Krönung des Ganzen ist „My Country“, ein Cover der aktuellen Rammstein-Single „Mein Land“, um welches die brachialen Tanzmetaller explizit gebeten hatten – und welches ganz nebenbei dem Original den Rang abläuft. Ein anderes Remake – denn ganz können sie das Covern ja doch nicht lassen – gibt es vom Beatles-Klassiker „Money (That’s What I Want)“, allerdings nicht in der „Popversion“ der Beatles, sondern in der Rock’n’Roll-Interpretation der Sonics, nach deren einem Titel („The Real BossHoss“) sich die Berliner benannt haben. Die sei – wie sollte es auch anders sein – „so richtig voll auf die Nuss“ … Und Jesse von den Eagles Of Death Metal mischt hier auch noch mit. Apropos Metal: „Killers“ stammt im Original von den britischen Hardrockern Motörhead. Klar, das ist wieder voll auf … Sie wissen schon.

Zarte Töne gibt es auf „Liberty of Action“ lediglich beim unglaublich überraschenden Special-Bonus-Track „L.O.V.E.“, bei dem es sich um nichts Geringeres als ein Cover des Easy-Listening-Klassikers von Nat King Cole handelt. Neben Pop-Mama Nena, die gemeinsam mit den beiden BossHoss-Frontmännern aktuell in der Jury zu „The Voice of Germany“ sitzt, sind hier mit Matthias Schweighöfer, Denis Moschitto, Maximilian Brückner und Alexandra Maria Lara auch die Schauspieler des Detlef-Buck-Films „Rubbeldiekatz“ zu hören, aus dessen Soundtrack der Song stammt. Wo üblicherweise viele Köche den Brei verderben, ist das „L.O.V.E.“-Cover ausgesprochen gut gelungen – und fügt dem Repertoire von The BossHoss eine weitere Facette hinzu, auf dass sie in Zukunft niemand mehr eine Country-Cover-Band zu nennen wagt.

Auch wenn ich „Liberty of Action“ als ziemlich cooles, stellenweise gar originelles Album bezeichnen möchte, habe ich ein Problem mit dieser Platte, denn aus rein kulturkritischer Perspektive dürfte ich es nicht mögen. Und tatsächlich fragt sich, wie weit es mit der Glaubhaftigkeit eines Albums her ist, auf dem sinngemäß gesungen wird, „nimm mir alles, aber nicht meinen Rock’n’Roll“, wobei sich der Künstler dann für eine sehr un-rock’n’rollige Casting-Show hergibt. Allerdings habe ich als klassischer Nicht-Fernseh-Besitzer besagte Show nie gesehen. Vielleicht ist sie ja gar nicht so un-rock’n’rollig.

Adam Cohen / Like a Man

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Weniger „auf die Nuss“, sondern eher besinnlich geht es bei Adam Cohen zu. Klar, wird so mancher denken, bei dem Vater. Dabei wollte Cohen nie Vergleichen mit dem übermächtigen Leonard standhalten müssen, und es dauerte Jahre, bis er sich an genau die Musik heranwagte, die er schon immer hatte machen wollen, von der er aber fürchtete, sie würde die Leute zu sehr an die Songs des Vaters erinnern. Das klassische Julian-Lennon-Syndrom. Und so musizierte der Sohnemann auch erst einmal französisch-sprachig, spielte mit der kalifornischen Pop-Rock-Band Low Millions und machte sich einen Namen als Songschreiber für andere Künstler, beispielsweise für Bette Midler.

Irgendwann aber war dem mittlerweile Neununddreißigjährigen klar: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und wie der Vater, so der Sohn und so fort, also was sollte es, konnte Adam Cohen doch gleich ein Album aufnehmen, dessen Songs nun einmal klingen wie die des „Lord Byron Of Rock‘n’Roll“, des „Master Of Erotic Despair“, des „Godfather Of Gloom“ und welche Ehrentitel man seinem Daddy nicht noch alle verpasst hat. Like A Man bezieht sich nicht von ungefähr auf einen der großen Hits des Vaters („I’m Your Man“) und sucht so den direkten Vater-Sohn-Vergleich, denn er trage, so Cohen Junior, „bei diesem Album meinen Genen und meiner Familiengeschichte Rechnung. Trotz meiner Versuche, eine andere Identität zu entwickeln, gehöre ich in Wirklichkeit zu einer langen Liste von Menschen, die sich dem Geschäft der Eltern widmen.“ Nicht zuletzt muss sich jeder Künstler, der im von Cohen Senior geprägten Singer/Songwriter-Genre wildert, mit diesem messen lassen.

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Und dennoch gelingt Adam Cohen eine überraschend moderne Herangehensweise: Like A Man klingt weit weniger nostalgisch, als man erwarten könnte, was einerseits der frischen und hellen Stimme Cohens zu verdanken ist, andererseits schlicht daran liegt, dass melancholischer Folk durch Künstler wie William Fitzsimmons oder Bon Iver gerade absolut en vogue ist. Dem Genre geschuldet ist auch die erfrischende Kürze des Albums: In etwas mehr als einer halben Stunde hat Cohen seine zehn Geschichten erzählt, die allesamt romantische Liebeserklärungen sind. Die gelungenste: Der Titeltrack „Like A Man“, der zugegebenermaßen schon sehr viel Leonard-Cohen-Aura verströmt. Auch die beiden darauf folgenden Titel „Sweet Dominique“ und „What Other Guy“ schlagen in dieselbe Kerbe. Hier wäre wohl jede gern die Besungene, wenn es heißt „We were face to face and lips to lips and heat to heat“ oder „I can name the first guy you ever kissed/I can name the perfume on your wrist/What other guy knows you like that?” Seufz. Poetisch ist der Mann ja. Kein Wunder, dass „Like A Man“ und „What Other Guy“ sogar Lob aus Daddys Mund erfuhren. Ihm seien hier einige „world-class love songs” gelungen, wie der Junior auf seiner Website den Vater stolz zitiert.

Das Problem mit „Like A Man“ ist dann auch nicht die vieldiskutierte Nähe zum Werk Leonard Cohens, die sich kongenial in der Überschrift „Der kleine Papa“ der Kollegen von plattentests.de widerspiegelt, sondern vielmehr der Umstand, dass sich die Songs des Albums zu sehr ähneln. Songs wie „Girls These Days“ sind einfach zu substanzlos, um zu überdauern. Allenfalls das poppigere „Matchbox“ hat das Zeug zur Single in den Indie Charts des College Radios, und auch die Let’s-Pretend-Hookline von „Lie Alone“ könnte etwas länger im Ohr bleiben.

Ein Song, den ich wirklich, wirklich mag, ist „Overrated“. Ja, Liebe wird überschätzt. Aber er liebt sie trotzdem. Schön, und musikalisch ähnlich intensiv wie der Titeltrack. Schade, dass dieser Eindruck mit dem kitschigen „Beautiful“ („thank you for being so beautiful“ – och nö) gleich wieder zunichte gemacht wird. Glücklicherweise schiebt Cohen „Stranger“ hinterher, das sich aber frech beim Basslauf vom Temptations-Hit „My Girl“ bedient und schon deshalb für einen positiven Das-kenn-ich-doch-Effekt sorgt. Ein durchwachsenes Album.

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Traditionellem deutschen Liedgut sind die allermeisten wohl gerade erst in der Weihnachtszeit wieder begegnet. Auch auf GeisterBahn geht es um alt-überlieferte deutsche Volkslieder – gesungen allerdings von gestandenen Folksängern aus Irland und Großbritannien, ausgewählt nach der ungebrochenen Relevanz der Texte zum modernen Leben.

Und tatsächlich denkt man bei den ersten Akustikgitarrenakkorden des Albums zunächst, man sei in eine alte Dylan-Aufnahme (wenn auch in wesentlich besserer Soundqualität) hineingestolpert. Doch dann setzt der deutsche Gesang ein, man stutzt für einen Augenblick und realisiert erst nach einem halben Satz, hey, nein, dass hier ist keine Folk-Musik, weder amerikanischer noch englisch-irischer Provenienz, sondern das sind tatsächlich unsere ureigenen, alten Lieder im Folk-Gewand, womit auch das Geheimnis um den Titel gelüftet ist: GeisterBahn-Produzent Andrew Cadie, der Folk-Fans als Teil des in Deutschland ansässigen englischen Duos Broom Bezzums bekannt ist, war bei seiner Ankunft in Deutschland über die hiesige Musiklandschaft enorm verwundert, die ihm geisterhaft verwaist erschien: „Im Radio lief oft nur uninteressanter angloamerikanischer Radiopop und selbst viele deutsche Bands sangen nicht einmal in ihrer eigenen Sprache. Es schien, als gäbe es keine eigene Kultur.“

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Zwar hat sich dies vor allem im Popbereich mittlerweile geändert, aber Cadie spielt Folk, und hier scheint alles beim Alten. Insofern ist GeisterBahn der ambitionierte Versuch einer Rückbesinnung auf und Stärkung von eigenen musikalischen Traditionen. Damit befindet sich Cadie in guter Gesellschaft – man erinnere sich hier nur an Edgar Knechts „Good Morning Lilofee“! Es scheint, die Zeit sei reif für die alten Lieder, und so obskur es im ersten Moment anmutet: Diese Handvoll englischer, schottischer und irischer Musiker, die Cadie da auf seinem Album versammelt hat, vermögen längst verloren Geglaubtes glaubhaft wiederzubringen. Das liegt zum Teil wohl auch daran, dass die Sänger alle hart an ihrer Aussprache arbeiten mussten, damit GeisterBahn nicht zur Freak-Show seltsamer Akzente gerät. Schon Mark Bennett beeindruckt beim Opener „Ich weiss ein fein braun’s Mägdelein“, wie er die ihm fremde Sprache ohne merklichen Akzent singt.

Ansonsten war die Vorgabe an die von Cadie rekrutierten Musiker lediglich, an das traditionelle deutsche Liedgut so heranzutreten, wie sie es mit den Vorlagen eines alten Liedes aus ihrer eigenen Heimat tun würden. So beispielsweise wird das von Cadie selbst gesungene „Ach bittrer Winter“ von einer keltischen Fiddle und Northumbrian Pipes begleitet und „Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen“ in der Interpretation des Schotten Craig Herbertson mit einer deutschen Tanzmelodie zwischen den einzelnen Strophen versehen. Dank der Instrumentierung und Herangehensweise der Musiker klingt GeisterBahn schlussendlich weniger nach Folk als nach Spielmann; unbewusst nimmt der Hörer an, dieser „ursprüngliche“ Klang sei kein artifizielles Projekt, sondern eine Art Rekonstruktion originaler Aufführungspraxis. Auch Mark Bloomers „Es geht ein dunkler Wolk herein“, meine Lieblingsnummer des Albums, ist etwas für Freunde von Spielleutemusik, hat das Traditional hier doch eine kongeniale Fiddle-Melodie verpasst bekommen.

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Alles in allem ist GeisterBahn ein recht beschauliches Album, einzig beim in der Tradition von Männer-Vokalgruppen wie Hudson Shad stehenden a-capella-Outro „Hamborger Veermaster“ kommt Schwung in die Sache, das swingt – und bleibt auch nach Verklingen der Platte als Mitsinger erhalten. Ansonsten sind die wirklich schönen Momente des Albums die ruhigen, wollte ich gerade schreiben, aber ruhig sind sie alle; sind also die wirklich schönen Momente die Stücke in Moll, die uralte, archaische Menschheitsmelodien ahnen lassen, wie beispielsweise „Hejo spann den Wagen an“, das auf GeisterBahn klingt, als wären es direkt im Hochmittelalter komponiert und ohne Reibungsverluste auf CD gepresst worden. Experiment gelungen, Kompliment!

Joe Fleisch / Oi Amerike

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Wenn Sie zu den beinharten Adepten von Victoriah’s Music gehören – sprich: die Kolumne nicht nur lesen, sondern sich auch oft und gern ihrem Rat anschließen –, haben Sie Ihre diesjährige Silvesterparty mit der „Electro Swing Revolution Vol. 2“ beschallt. Haben Sie? Brav. Hat es Ihnen gefallen? Fein. Dann habe ich hier nämlich noch ein Sechs-Track-Leckerchen für Sie: Joe Fleisch in Gestalt seines Alter Egos ElectroYid mit der Oi Amerike-EP.

Die ersten Takte des Titeltracks „What can you mach, sis is Amerike“ erinnern zwar sehr an den sofort in die Beine gehenden, stampfenden Rhythmus von Seeeds „Ding“, doch kommt hier statt Peter Fox’ einschmeichelnden Stimme mit einem Mal ein nervöses Gehektike aus den Boxen, ein bisschen verrückter Professor, ein bisschen Punk – und welche Sprache singt der Typ da eigentlich? Ähnlich wie The BossHoss am Beginn ihrer Karriere nimmt sich der gebürtige Frankfurter Joe Fleisch bereits bestehender Lieder an und unterzieht sie einer ganz speziellen Fleischisierung. Für den Normalhörer kommen dabei großartige und vor allem unglaublich lustige Party-Tracks im Stile von „Russendisko in der Klapsmühle“ heraus; der musikhistorisch Beschlagene freut sich zudem an dem subversiven Humor und der Respektlosigkeit Fleischs.

Der nämlich nimmt sich gemeinsam mit seinen JewishMonkeys Dr. Boiko und Gael Seidner (einem Tierarzt und einem Psycho-Coach) traditioneller jüdischer und nicht-jüdischer Einwandererlieder an, und anstatt in musealer Historisierung zu erstarren oder die hundertste pseudo-authentische Klezmer-Aufnahme einzuspielen, nimmt er die Klischees des Genres aufs Korn, bis eine aberwitzige Klezmer-Parodie entsteht. Übrigens auch den Titel „Misirlou“, der uns zuletzt in der Version von Tsching! über den Weg gelaufen ist (Sie wissen schon: Dieser griechische Rebetiko, auf den fast jede Nation Anspruch als ureigenes Volkslied erhebt), und der bei Fleisch zur tubalastigen Electro-Polka gerät.

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Abgerundet wird das Dreigestirn von Wilmoth Houdinis „Black but Sweet“ aus dem Jahr 1931, für dessen etwas andere Wiederbelebung hier keine Geringeren als die Tel-Aviver Gitarren-Surfer BoomPam verpflichtet wurden, abgerundet von einem tollwütig jaulenden Joe Fleisch.

Von all dem Irrsinn gibt es dann noch die tanzbaren Remixe des Berliner DJs, Produzenten und Label-Chefs Daniel Haaksmann, die die ohnehin schon wahnwitzigen Versionen Fleischs in unermessliche Abgedrehtheit steigern. So klangen die Originale mit Sicherheit nicht, und das ist auch gut so!

Das Händchen für den überschäumenden Spagat zwischen osteuropäischen Beats und Electro kommt auf Oi Amerike nicht von ungefähr, denn Joe Fleisch hat sich mit Ori Kaplan aka DJ Shotnez den Saxophonisten, Komponisten und Produzenten von Balkan Beat Box mit ins Boot geholt, und der weiß eines: wie man die Hintern der Leute von den Stühlen reißt und die Tanzflächen dieser Welt zum Schwingen bringt. Gepaart mit den JewishMonkeys, die man wohl am besten als burleskes Trio mit nahezu Marx-Brothers-artigem Sinn für Unsinn beschreiben kann, entsteht eine explosive Mischung. Subversiver, irrwitzig abgedrehter Klezmer-Punk? Egal, wie man es nennen mag, es macht Spaß! „Oi Amerike“ wird mit Sicherheit nicht nur auf den Kosher-Nostra-Parties dieser Welt der Renner und ist ganz bestimmt noch weit vor King Oliver’s Revolver das Abgefahrenste, was ich in letzter Zeit gehört habe. Ein Muss!

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Plattenkritik: Puder | Melissmell | First Aid Kit | Smith & Burrows | The BossHoss | Adam Cohen | VA: Geisterbahn | Joe Fleisch

  1. 2 Puder / Puder

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    Dieses Jahr fängt gut an: Nämlich mit der Veröffentlichung der Puder-Platte, hinter der sich die Hamburger Sängerin Catharina Boutari verbirgt. Weshalb mich das so freut? Nun, Puder hat mir gewissermaßen den letzten Sommer gerettet – und den Herbst gleich mit. Denn nicht nur das Projekt, sondern auch einer der vorab veröffentlichten Songs der Platte heißt „Puder“, und der, ja, der hatte mich gepackt, mit seinem atemlosen „und ich steh nicht und ich dreh mich, und ich tanze, ich beweg mich, meine Hände, meine Träume, meine Haut ist ihre Beute, Funken fliegen, ich erliege und die Crowd vor mir macht aah“!

    Selbst in der auf lediglich zwei im Terzabstand harmonierende Gesangsstimmen mit Gitarrenbegleitung heruntergebrochenen Version, die ich während eines Akustik-Gigs von Boutari und ihrer Pussy-Empire-Labelkollegin Chantal de Freytas zu hören bekam, versprühte „Puder“ immer noch die selbe unglaubliche Energie, die auch dem fertig produzierten Track innewohnt. Allein der Start in den als Opener des Puder-Albums dienenden Songs mit einer fetten Hammond wirkt als Initialzündung, die die ganze Platte hindurch wirkt. Puder brennt und glitzert, Puder packt zu und lässt nicht mehr los. „Let’s Pop“, sagt Puder, und der Hörer folgt willig.

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    Erst nachdem ich „Puder“ kannte, habe ich die ungeheuer erfolgreichen Frida Gold und ihren Song „Komm zu mir nach Hause“ entdeckt – die Energie, den Hedonismus und den Glamour des „discoisierten Indie-Pops“ der Hattingener hat Puder schon längst und besticht noch dazu durch die raffiniertere Produktion und nicht zuletzt die tiefgründigeren Texte, denn trotz des im Vordergrund stehenden Imperativs „Tanz!“, der schon mehr Befehl als bloße Aufforderung ist, kann Puder mehr als die urbane Hedonistin zu geben. Klar, dass nach drei Alben, einer EP und einer längeren Pause, in der Boutari ein Kind bekommen hat, auch Zeit für den einen oder anderen leisen Ton ist.

    Bestes Beispiel: Die aktuelle Single „Großstadtkonkubinen“, eine zerbrechliche Akustikballade. Boutari denkt nach über das Großstadtleben und seine Schattenseiten, über Obdachlosigkeit und Dramen an der Bordsteigkante; und als verantwortungsvolle Mutter auch darüber, welche Welt sie ihrem Kind vermachen wird. Ist „Meinen Kindern diese Welt“ oberflächlich betrachtet eine Reminiszenz an Peter Fox’ „Haus am See“, setzt sich tatsächlich aber mit Krieg und Völkermord auseinander, wobei das Schlagzeug den Groove hinter sich herschleppt, als hätte er das Gewicht von tausend Steinen. Da verwundert es kaum, dass sich Catharina Boutari eine Zeitmaschine wünscht, um die Geschichte neu zu schreiben („Straßenrand“). Und auch Dampfplauderer, die mehr versprechen, als sie halten, bekommen von Puder ihr Fett weg: „Du hast Parolen/und ich hab ‘nen Sack voll Gold!“

    Ob Sack voll Gold oder vielschichtige Fundgrube – je öfter man die Puder-Platte hört, desto mehr Facetten und Anspielungen entdeckt man, von offensichtlichen Anklängen an die Neue Deutsche Welle ganz zu schweigen. Fast lupenreinen „Trio“-Klang bietet der überdrehte Shake-It-Baby-Song „Click Clack“, genauso wie der nervöse Mein-Land-ist-abgebrannt-Refrain „Straßenrand“. Neben dem stoischen Minimalismus von Trio ist aber auch der dichte Satzgesang von Ray Charles’ Backgroundsängerinnen ein Einfluss für „Puder“, ebenso wie der Oldschool-HipHop der Achtziger. Nicht zuletzt erinnert die oftmals mit wabernder Retro-Orgel und lickenden Gitarren gespickte dichte Atmosphäre an die überschäumenden Funk-Parties von James Brown oder George Clinton, wobei Puder kein Funk ist, kein Soul und schon gar kein R&B. Puder ist Zucker, ohne Soul zu sein, Puder ist Disco, Tanzbarkeit und Groove, dabei aber immer Pop.

    Ganz en passant deckt Boutari dann noch die Formel fürs Lebensglück („Heyoh!“) auf und erdet das Ganze mit einem abschließenden Spoken-Word-Epilog. Absoluter Ohrwurm neben dem Titeltrack aber ist „Post vom Meer“, dessen Dann-kann-ich-das-Meer hören-Refrain man nicht mehr loswird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Ding der Sommerhit 2012 wird. Meiner auf jeden Fall.

    Melissmell / Ecoute s'il pleut

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    Bekanntermaßen bin ich ja ein großer Fan von Ukulele-spielenden Sängerinnen/Illustratorinnen, allen voran der wunderbaren Illute. Jetzt gibt es mit Ecoute s’il pleut, dem Debütalbum der französischen Künstlerin Melissmell, neues Futter für diesen hawaiianisch-voyeuristischen Teil meiner Seele.

    Melissmell, die die zu ihren Einflüssen CocoRosie ebenso zählt wie Nirvana, Gainsbourg wie Patty Smith, Sparkelhorse wie Janis Joplin, die Sex Pistols wie Björk und Jaques Brel wie die Doors, hat ein wildes, fast gewalttätiges Post-Punk-Album im Geiste Bertrand Cantas geschaffen, dessen Rohheit und Unmittelbarkeit aber immer wieder durch zärtliche Momente unterbrochen wird. Wie schon die eklektizistische Wahl ihrer Vorbilder ist auch Ecoute s’il pleut voller Gegensätze, irgendwo zwischen lyrischer Liedpoesie und der großen Rock’n’Roll-Hymne, bei der schon mal ein komplettes Streichquartett aufgefahren wird, arrangiert von Mels-Haus-Cellist Thomas Nicol, der gemeinsam mit Stefano Bonacci an der Gitarre das Soundbett für die wütende junge Sängerin bereitet, ergänzt durch Gastspiele von Hugo Cechosz am Bass, Philippe Entressangle am Schlagzeug und Matu am Klavier. Auch M-Gitarrist Seb Martel steuert das eine oder andere Riff bei.

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    Und dann gibt es da ja noch die Ukulele, die von Melissmell auf Ecoute s'il pleut im Gegensatz zu ihren Live-Auftritten nur sehr sehr spärlich eingesetzt wird und hier fast in den üppigen Arrangements verschwindet. Überhaupt fehlen auf dem Album die Ukulelen-Nummern wie beispielsweise „Marlene“, mit denen sich Melissmell eine kleine, aber feine Fangemeinde erspielt hat, ob im Rahmen der Fête de la Musique oder in den sozialen Medien.

    Ecoute s’il pleut beginnt mit dem Ticken eines Weckers und lässt somit allerlei chansonesques Kleinkunstgeräusch erahnen, doch entwickelt sich der Opener „Aux Armes“ schon bald Richtung Le Rock denn zum ausgewachsenen Chanson. Auch das Cello-dominierte „Je me souviens“ schleicht in in bester Jaques-Brel-Manier an, entwickelt sich dann aber zu einer E-Gitarren-überlasteten Shouter-Nummer – und das ist schade, denn die leisen, akustischen Momente, wie sie am Anfang und Ende dieses Songs zu hören sind, machen für mich den Zauber der Französin aus. Überzeugen kann man sich davon auf „Viens“, das mit Klavier, Jazzbesenschlagzeug, Cello und Stimme schon fast Jazz-Quartett-Charakter hat. Der dritte Track, „Sobre Le Muerte“, hingegen macht wahnsinnig Spaß und zeigt entgegen dem verbreiteten Klischee: Doch, die Franzosen können rocken!

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    „Le Mouton“ mit seinem Reggae-artigen Rhythmus steht dem in Sachen Hörvergnügen in nichts nach, und doch ist es allenfalls der 38-Sekünder „Goûte“, der mit seinem Spieluhrcharakter noch an die Experimentierfreude der Melissmell von vor ein, zwei Jahren erinnert - doch leider soll er nur Präludium für die pathetische Rocknummer „Le Silence De L’agneau“ sein, und diese sagt ganz klar: Zu früh gefreut, denn sie vereint all jene überflüssigen Elemente, die französischer Rockmusik ihren zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Gerade, wenn man so richtig desillusioniert ist, reißt Melissmell das Ganze mit dem energetischen „Sens Ma Fatigue“ wieder heraus. Der wohl beste Track des Albums!

    Was mir noch an Melissmell gefällt: Dass sie sich nicht als singendes Hochglanzkätzchen vermarkten lässt, denn hübsch genug wäre die gelernte Illustratorin allemal. Stattdessen ziert das Cover ihres Debütalbums ganz uneitel eine (selbst-)gemalte Melissmell, die mit ihren aufgenähten Knopfaugen leicht unheimlich wirkt, irgendwo zwischen Emily the Strange und Kinderbuch, und sich durch das ganze Cover-Artwork zieht. So verleiht Melissmell ihrer Musik auch noch eine visuelle Komponente, die Ecoute s'il pleut zu einem kleinen, in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk macht.

    First Aid Kit / The Lion’s Roar

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    Im Gegensatz dazu kommt hier eine Platte, von der ich restlos begeistert bin. Ja, ich bin versucht zu sagen: The Lion’s Roar hat jetzt schon das Potenzial zur Platte des Jahres! Unbestreitbar ist der Zweitling der schwedischen Söderberg-Zwillinge –nachdem sie mit The Big Black and the Blue 2010 ein starkes Debüt hingelegt hatten – zumindest für diesen Teil des Jahres wie gemacht, denn ich kann mir keinen besseren Soundtrack zu einem verregneten Januar-Wochenende vorstellen als die Musik von First Aid Kit, der in der Tat etwas von einem Erste-Hilfe-Set an sich hat: Indie-Folk für die Seele.

    War The Big Black and the Blue noch spärlich bis intim instrumentiert, fährt The Lion’s Roar eine komplette Band auf. Benkt Söderberg, der Vater der Mädchen, ist hier am Bass zu hören, Matthias Bergquist am Schlagwerk sowie eine Handvoll Musiker aus dem Umfeld des Projektes Bright Eyes aus Omaha, Nebraska, wie Conor Oberst , Mike Mogis und Nate Walcott. Mogis zeichnet auch für die Produktion von The Lion’s Roar verantwortlich, und auch das ist neu, denn Klara und Johanna hatten bislang noch nie mit einem Produzenten gearbeitet. Infolge ist die Platte auch mehr Honkey-Tonk als Lagerfeuer, und das im besten Sinne. Nicht zuletzt macht die professionelle Produktion den Sound der Schwestern recht eingängig und leicht fassbar.

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    Geblieben ist ihr Faible für das Bittersüße. So beispielsweise ist „This Old Routine“ typische Country-Ballade, die den Verlust vergangener Glanzpunkte und die Trauer über den sich allmählich einschleichenden Alltag beschreibt und für die sich selbst Dolly Parton nicht schämen müsste. Und auch die fröhlich-brutale Version der Mörderballade „Knoxville Girl“ des Close-Harmony-Duos Louvin Brothers muss zumindest als Zitat herhalten, um zu demonstrieren, wie nahe Süßes und Saures, Freude und Schmerz, liegen. Dann wären da noch Songs wie „Emmylou“, die zwar fröhlich klingen, aber „der Text ist die traurigste Sache, die du je gehört hast“, wie Johanna Söderberg erklärt. Schließlich setzen sich die Zwillinge in dem Song – neben Gram Parsons, Johnny Cash und June Carter – mit Country-Größe Emmylou Harris auseinander, und mit der Traurigkeit, die sich trotz einer erfolgreichen Karriere durch das Leben und Werk der Künstlerin zieht.

    Neben dem Titeltrack „The Lion’s Roar“ und dem großartigen „I Found A Way“ ist mein persönlicher Favorit des Albums „Dance To Another Tune“, welches es perfekt versteht, den Appeal langer skandinavischer Winter mit traditionellen Americana zu verschmelzen – wobei dies im Grunde genommen die Kurzformel ist, auf die man First Aid Kit herunterbrechen könnte: Nord-europäische Schwermut trifft auf amerikanisch-beschwingten Country-Folk-Rock. Und das ist erst der Anfang. Ich freue mich auf alles, was von den als Fleet-Foxes-Coverband gestarteten Mädels noch kommen wird!

    Smith & Burrows / Funny Looking Angels

  2. 3 Various Artists / GeisterBahn

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