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Alfredo Rodríguez – Tocororo | Gregor Huebner – El Violin Latino Vol.2

Juli 2016 / Victoriah Szirmai

Auch wenn mit Nikki Yanofsky eine seiner letzten Empfehlungen nicht vollends überzeugen konnte, gilt prinzipiell: Wenn Großmogul Quincy Jones sagt, etwas ist gut, dann ist es gut. Und wenn er sich dann sogar noch bemüßigt fühlt, seine ureigenen Goldfinger produzierenderweise an die Regler zu lassen, muss das als Krönung des positiven Urteils verstanden werden.

Alfredo Rodríguez Cover

So auch im Falle des 1985 in Havanna geborenen Pianisten Alfredo Rodríguez, dem als Sohn von Sänger und Komponist Alfredo „Alfredito“ Rodríguez die Musikalität gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde. Doch wo sich der Vater der romantischen Melodie verschrieben hat, rockt der Sohn lieber die Jazzfestivals von Montreux bis Newport, allda er sich die Bühne auch schon mal mit Herbie Hancock, Wayne Shorter oder Esperanza Spalding teilt. Und wie Letztgenannte hat sich auch Rodríguez den Ruf des jungen Wilden erspielt. Zu Recht: So etwa haucht er dem aus Buena Vista Social Club bekannten „Chan Chan“ den abrupt zwischen Zärtlichkeit und Brutalität oszillierenden Geist des Rock ein – und das ganz ohne die kubanischen Wurzeln des Stücks zu verleugnen. Nicht ohne Grund hat Rodríguez sein neues Album nach dem Nationalvogel Kubas benannt, dem Tocororo, der in Gefangenschaft an Traurigkeit stirbt. Mit dieser absoluten Notwendigkeit von Freiheit kann sich Rodríguez musikalisch bestens identifizieren.

Alfredo Rodríguez 1.3

Auch alle anderen vom Tocororo verkörperten Eigenschaften betrachtet Rodríguez als unabdingbar für seine Kunst, allem voran die „Fremdbestäubung“ der kubanischen Kultur mit all jenen Einflüssen, die dem Pianisten auf seiner musikalischen Reise begegnet sind. So hört man auf Tocororo neben Rodríguez an Klavier, Synthesizer und Melodion das französisch-kubanische Vokal-Duo Ibeyi, das von den Zwillingsschwestern Lisa-Kaindé und Naomi Díaz geformt wird, gleichberechtigt neben dem kamerunischen Jazz-Bassisten Richard Bona, dem spanischen Flamenco-Sänger Antonio Lizana, dem französisch-libanesischen Trompeter Ibrahim Maalouf (grandios!) oder der südindischen Vokalistin Ganavya, während sich das Repertoire des Albums neben Eigenkompositionen von Rodríguez aus der kubanischen Geschichte speist, aber auch Begegnungen mit Astor Piazolla oder Johann Sebastian Bach nicht scheut.

Tocororo ist keine jener Easy-Listening-Sommerplatten, wie sie uns so gern an urbanen Strandbars begegnen. Es ist vielmehr das Album eines Künstlers, der sich intensiv mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt und diesen Wurzeln Respekt erweist, dabei aber nicht vergisst, sich und seine Kunst auch der Welt zu öffnen. So muss der Dialog der Kulturen klingen, wenn er nicht bemüht, geschweige denn weltmusikbewegt pädagogisierend zustande kommt, sondern vielmehr ganz ungezwungen seinem natürlichen Fluss folgt. Dass das trotzdem (oder gerade deshalb) Spaß machen kann und Stücke wie „Ay, Mamá Inés“ dann doch noch eine gehörige Portion südliche Lebenslust in unsere Wohnzimmer bringen, ist ein angenehmer Nebeneffekt. Mehr noch erfreut sich das Hörerohr an Kompositionen wie „Sabanas Blancas“, die unendlich viele Schichten zu haben scheinen, denen erst mit mehrmaligem Hören beizukommen ist, während Stücke wie „Kaleidoscope“ mit ihren vertrackten Rhythmen bezaubern. Und mit dem die Platte schließenden Remix von „Ay, Mamá Inés“ hält dann doch noch ein Hauch loungige Strandbarleichtigkeit Einzug in dieses tiefsinnige Album.

 Gregor Huebner | El Violin Latino Vol. Cover

Die Violine als gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Spielarten lateinamerikanischer Popularmusik hat es dem Stuttgarter Geiger, Pianisten und Komponisten Gregor Huebner so sehr angetan, dass er mit El Violin Latino Vol. 2 zum Wiederholungstäter wird. Wie auf der ersten Ausgabe von 2010 dreht sich auch hier wieder alles um einen Latin Jazz, der seine osteuropäischen Einflüsse schon deshalb nicht verstecken kann, weil die Einwanderungswelle osteuropäischer Musiker, insbesondere Violinisten, Ende des Neunzehnten, Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts just zu jenem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreicht hatte, als viele populäre südamerikanische Musikstile entstanden. So nimmt es nicht Wunder, dass Huebners musikalische Reise durch Kuba, Brasilien und Argentinien auch diesmal vor Anleihen osteuropäischer Volks-, Zigeuner- und Klezmermusik nur so strotzt, wenn auch auf jeweils völlig andere Art und Weise. So spielt er, um den in diesen Ländern entstandenen verschiedenen Stilen gerecht zu werden, konsequent mit drei verschiedenen, jeweils mit einheimischen Musikern besetzten Ensembles.

Gregor Huebner | El Violin Latino Vol. CD RS

Dabei geigt er selbst derart unaufgeregt, dass El Violin Latino Vol. 2 auch vor den Ohren all jener Gnade finden könnte, die mit dem Klang der Violine üblicherweise wenig anfangen können – wenn sie sich ob dieser Platte nicht ohnehin Hals über Kopf in das Saiteninstrument verlieben. Streicherschmalz jedenfalls sucht man vergeblich, wenn sich der Wahl-New-Yorker Schwabe Stücke wie Astor Piazollas „Fracanapa“ vorknöpft, denen man seine mehr als dreißigjährige Liebe zum Tango anhören kann. Apropos Streicherschmalz: Den Wiener Stehgeiger gibt Huebner noch am ehesten auf eigenen Stücken wie „Fantasia“, die sich nichtsdestotrotz getrost als Albumhighlights bezeichnen lassen. So beispielsweise kommt das doppelgriffreiche „Tiempo De Almendra“ mit großer Leichtigkeit im kubanischen Latin-Jazz-Idiom daher, von dem man gar nicht glauben mag, das es nicht längst in den Buena Vista-Kanon gehört. Wo wir gerade von Leichtigkeit sprechen: Oriente Lopez‘ „La Canafistula“ ist für meinen Geschmack eine Spur zu easy listening geraten, sodass man froh ist, wenn die Platte mit Anibal Trollos „La Ultima Corda“ wieder in dramatischere Tango-Gewässer einfährt.

Gregor Huebner | El Violin Latino Vol. 2.2

Das mit Abstand berührendste Stück ist aber sicherlich die Huebner-Komposition „For Octavio“, die – wie im Übrigen das gesamte Album – dem jüngst verstorbenen Tango-Pianisten Octavio Brunetti gewidmet ist, der auch auf Huebners El Violin Latino Vol. 1 musizierte. Anders als auf den restlichen Stücken wagt sich der Geigenton hier auch schon mal über die konventionellen Klanggrenzen hinaus. Eine weitere Oriente-Lopez-Komposition, die auf dieses Stück folgt, setzt einen klaffenden Kontrast, der einmal mehr die kompositorische Kunstfertigkeit Huebners schätzen lässt.

Keinen Zugang bekomme ich persönlich zu Klaus Muellers „Life in Rio“ sowie zu Kab Fischers „Serenade“. Erst der furiose Tango „A Miguel Ange“, eine Komposition des montevidensischen Bandoneonspielers Raul Jaurena, mit dem die Platte ihren Klimax erreicht hat, lässt wieder aufatmen. Dass das Huebner-Stück „Gitano Yambu“ trotz seines leichten, ja: nahezu ambientigen Charakters dagegen nicht abfällt, liegt nicht nur an der Poetin Amparo Baron, die hier für leidenschaftliches Poetry-Slam-Flair sorgt, sondern auch daran, dass Huebner das lateinamerikanische Idiom mittlerweile so sehr verinnerlicht hat, dass seine Kompositionen nicht als „im Stile von“ zu bezeichnen sind, sondern als genuine Hervorbringungen des jeweiligen Genres. Doch auch wenn er die kubanischen und brasilianischen Klänge meisterhaft beherrscht – wirklich zuhause ist Huebner im Tango, wie der Closer „New York Tango Impressions“ für Solovioline beweist. Gregor Huebner, so zeigt sich, spielt nicht nur lateinamerikanische Violine – er lebt, atmet, kurz: er ist lateinamerikanische Violine.

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