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Neneh Cherry – The Cherry Thing

August 2012 / Victoriah Szirmai

Wer 1988 Ohren hatte, kam um „Buffalo Stance“ nicht herum. Auch heute muss ich nur kurz die Augen schließen, schon hallt der „Who’s looking good today? Who’s looking good in every way? No style rookie/You better watch don’t mess with me”-Refrain durch meinen Kopf, und auch das Video – inklusive entsprechender Pose: den verschränkten Armen – lässt vor meinem geistigen Auge nicht lange auf sich warten.

Neneh Cherry And The Thing The Cherry Thing

Die Mischung aus Hip-Hop und nervigen Achtziger-Acid-Keys war damals hochgradig angesagt – heute erkennt man daran lediglich das Alter des Stücks. Und ist geneigt, hier allenfalls einen Vorläufer von Trip-Hop oder Drum&Bass zu sehen. Auf dem Debütalbum „Raw Like Sushi“ von Neneh Cherry gab es allerdings mehr als nur „Buffalo Stance“, zum Beispiel „Manchild“ und „Inna City Mama“, und selbst wer mit diesem absolut urbanen Sound wenig am Hut hatte, konnte nicht umhin zuzugeben: Das ist gut.

Was nicht wirklich verwundert, wurde das Album damals doch von Cameron McVey produziert, der auch für Massive Attacks „Blue Lines“ und Portisheads „Dummy“ verantwortlich zeichnete – und ganz nebenbei Cherrys Ehemann war und ist. Ihr Folgealbum „Homebrew“, eine Abkehr vom Dance-Sound, verschwand wenig beachtet in der Versenkung, aber spätestens seit ihrem dritten Album „Man“ mit dem grandiosen Marvin-Gaye-Cover „Trouble Man“ (und „Golden Ring!“ und „Everything“! und und und!) steht Neneh Cherry auf der Liste meiner persönlichen Lieblingskünstlerinnen. Daran konnte auch das extrem populäre „7 Seconds“, ein Duett mit dem senegalesischen Musiker Youssou N’Dour, nichts mehr ändern, obgleich dieser Hit Cherry, die bislang eher als „a musician’s musician“ gegolten hat, dem Ruch des Mainstreams nahebrachte. 2007 kam dann das CirKus-Projekt, mit dem die „Genre-Mama“ (laut.de) mal wieder feinsten Trip-Hop – für alle, die den Begriff nicht mögen: Bristol Sound – zu Gehör brachte, und dann kam erst einmal nichts. Umso mehr schlug die Nachricht, dass Cherry mit den Punk-beeinflussten schwedischen Free-Jazzern The Thing im Studio steht, wie eine Bombe ein.

Neneh Cherry And The Thing The Cherry Thing

So verwunderlich ist allerdings auch das nicht, denn Neneh Cherry hat, auch wenn man es ihrer eigenen Musik bislang kaum anhören konnte, den Jazz sprichwörtlich mit der Muttermilch aufgesogen – oder, genauer, durch den Stiefvater mitbekommen. Bei diesem handelt es sich um keinen Geringeren als den Free-Jazz-Innovator Don Cherry, mit dem sie aufwuchs und durch die Welt tourte, immer in engem Kontakt mit Jazz-Legenden wie Ornette Coleman oder Miles Davis.

Mit den drei „The Thing“-Musikern Mats Gustafsson (Tenor- und Baritonsaxofon, Orgel, Live-Elektronik), Ingebrigt Håker Flaten (E- und Kontrabass, Vibraphon, Elektronik) und Paal Nilssen-Love (Schlagzeug und Percussions), die sich nach einem weniger bekannten Stück Don Cherrys benannt haben, erweist sie ihrem Vater auf „The Cherry Thing“ dann auch mit dem Cover seines Songs „Golden Heart“ Reverenz. Ohnehin ist dies eine Art Coveralbum, da sich unter den acht Tracks sechs Coverversionen finden, unter anderem „Dirt“ der Garagen-Rocker The Stooges, „Dream Baby Dream“ von Suicide, „Too Tough To Die“ von Martina Topley-Bird oder „What Reason Could I Give“ von Ornette Coleman.

Das durch Genre-typische, permanente Tempi-Wechsel bestimmte „The Cherry Thing“ eröffnet mit einem Kontrabass-Groove, der einen sofort packt, aber auch signalisiert: Achtung, hier wird Jazz gemacht – hier gibt es nichts zu lachen! Der Einsatz von Cherrys Stimme verblüfft dann erst einmal, denn schließlich kennt man diese Stimme so gut – aber eben aus einem komplett anderen Kontext. Nach knapp einer Minute mit Schlagzeug und Bläsern weiß man: Okay, hier wird nicht nur Jazz, hier wird Free Jazz gemacht. Den kann man heiß und innig lieben. Der kann einem aber auch wahnsinnig auf die Nerven fallen, wie beispielsweise beim ewig gniedelnden Saxophonsolo, das auf dieser Eigenkomposition Neneh Cherrys zu schreien scheint: Die wohlgeordnete Struktur eines Popsongs findet ihr hier eher nicht! Was wiederum heißt, dass „The Cherry Thing“ vom Hörer verlangt, sich von – erlernten – Klangerwartungen zu lösen. Wer nur Formatradio hört, wird mit diesem Album erst einmal wenig anfangen können. Wer vom Pop- und Smooth-Jazz-Allerlei genervt ist, dem kann es allerdings völlig neue Hörerfahrungen eröffnen und ihm damit nichts Geringeres als den Einstieg in die Welt des Free Jazz bieten.

neneh cherry and the thing the cherry thing

Vielleicht gelingt dies am ehesten mit dem Song „Dream Baby Dream“ der „Proto-Punker“ (wikipedia.de) Suicide, welches beim ersten Hören eher in Richtung „auf-die-Nerven-gehen“ und nicht „heiß-und-innig-lieben“ tendiert, woran die Länge von 8‘24‘‘ sicherlich nicht ganz unschuldig ist. Je öfter man es aber hört, desto mehr erschließt sich der Sinn; und auch jenseits des intellektuellen Erfassens wächst mit der Zeit das Vergnügen an der Spielfreude der Band, vorangetrieben durch eine tighte und funky Rhythmusgruppe, die im exakt richtigen Moment wieder gezügelt wird, sodass Überschäumendes nie umkippt und ins Gegenteil umschlägt, sondern dem Hörer genau dann einen Moment zum Durchatmen verschafft, wenn dieser ihn braucht. Kontrolliertes Chaos, könnte man es auch nennen, oder Überwältigung im positiven Sinne. Das gilt im Übrigen nicht nur für „Dream Baby Dream“, sondern für die ganze Platte.

„Too Tough Too Die“ wartet dann mit dem bislang schönsten Moment der Platte auf: dem extrem coolen Baritonsaxophon von Mats Gustafsson. Gänzlich vernachlässigen Neneh Cherry und The Thing aber den bitterbösen Unterton der nicht umsonst „Circe des Pop-noir“ genannten Martina Topely-Bird dennoch nicht, was den Song schlicht bezwingend werden lässt. Sich dabei entspannt zurück lehnen und loungen kann man allerdings nicht, denn auch „Too Tough Too Die“ soll sich als recht fordernd für den Hörer erweisen – eine willkommene Herausforderung allerdings. Dass sich „The Cherry Thing“ nicht unbedingt zum Soundtrack für den Balkonabend mit Freunden eignet, wird der anspruchsvolle Hörer nicht nur verschmerzen können, sondern hoffentlich auch zu schätzen wissen.

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Mit „Sudden Movement“, einer Komposition Gustafssons, kommt dann allerdings ein Stück, dessen erste Takte schon beim ersten Hören gefallen. Vom Mainstream ist man hier dennoch meilenweit entfernt, denn auch „Sudden Movement“ wird zwischendrin sehr free, so free sogar, dass man sich unwillkürlich fragen muss, wie viel an Freiheit man in der Musik zu ertragen bereit ist, wenn sie so sehr auf Kosten des Wohlbefindens geht. Viel, kann die Antwort nur lauten, vor allem da der ins Orientalisch-Pentatonische gehende Schluss den Hörer wieder mit der Welt und vor allem diesem fantastischen Tanz zwischen klagender Frauenstimme und brennendem Horn versöhnt. Gänzlich begeistert dürfte dieser auch von „Accordion“ sein, einem Cover des Rappers MF Doom, das sich mit seinem federleichten Kontrabasslauf und einer ganzen Schicht (Saxophon-)Luft zunächst recht harmlos anschleicht, dann aber vom gegenläufigen Schlagzeug exzellent konterkariert wird.

„Golden Heart“ allerdings erlebe ich als die Enttäuschung des Albums, es oriental-ornamentiert, um nicht zu sagen, dudelt irgendwie motivationslos vor sich hin, sodass man die manchmal ausufernden Free Sessions der Vorgängertracks glatt vermissen könnte! Glücklicherweise schließt sich hier „Dirt“ an – eine intensive, breitbeinige Voll-auf-die-Nuss-Nummer, die sich auch im Rockstadion nicht verstecken müsste, obgleich (oder gerade weil) sie weniger wild als das Stooges-Original ist. Heruntergefahren wird der Hörer mit dem Schlusstrack „What Reason Could I Give“, das bei The Thing im jazzy Nachtclub-Stil erstaunlich zugänglich daherkommt und auch Non-Jazzheads beim ersten Hören gefallen könnte. Alle anderen mögen etwas Zeit und den einen oder anderen weiteren Hördurchlauf benötigen, um das Album zu erfassen – und lieben zu lernen.

Neneh Cherry And The Thing The Cherry Thing

Allein mit Cherry selbst, die ich seit dem 1996er-Album „Man“ nicht nur für eine großartige Songwriterin, sondern auch für eine begnadete Sängerin halte, die ihre reduziert eingesetzte Stimme nach Bedarf brechen lassen kann und in der immer auch eine Spur Billie Holiday mitzuschwingen scheint, bin ich auf „The Cherry Thing“ nicht wirklich glücklich. Das hat wenig damit zu tun, dass sie keine Jazz-Sängerin ist. The Thing können auch einen Indie-Sänger gut vertragen. Es hat vielmehr damit zu tun, dass Cherrys Stimme zunächst einmal nicht zu dem „The Thing“-Sound zu passen scheint. Beim ersten Hören lässt sich nur auf „Accordion“ – das auf „The Cherry Thing“ zur Spoken Word/Jazz Poetry-Nummer im Stile Dana Bryants gerät – ahnen, welch gewaltigen Zauber die Kombination Neneh Cherry und The Thing entfalten könnte. Die übrigen Stücke brauchen Zeit, packen dann aber umso bestimmter zu.

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